Jennifer Rischers ist eine von 7,5 Millionen Deutschen, die kaum lesen und schreiben können. Heute ist Weltalphabetisierungstag.

Bielefeld. Nicht schon wieder ich. Warum nimmt sie nicht jemand anderen dran? Jennifer Rischers Magen verkrampft sich. Der Puls rast. Am liebsten würde sie aus der Klasse rennen. Doch sie muss da durch. Sie soll einen einfachen Text vorlesen. Schon beim ersten Wort kommt sie ins Stocken. Noch ein Anlauf - vergeblich. Einige Mitschüler beginnen zu kichern. "Guck mal, die kann nicht lesen", sagt einer. Solche Sprüche hat Jennifer schon oft gehört. Dennoch sind sie so schmerzhaft wie am ersten Tag.

Jennifer Rischers, 20, aus einem kleinen Ort bei Bielefeld, erinnert sich mit Grauen an ihre Schulzeit. Sie ist Analphabetin - wie 7,5 Millionen andere sogenannte funktionale Analphabeten. Sie kann zwar kurze Sätze lesen. Aber Formulare ausfüllen, einen Mietvertrag unterschreiben - undenkbar.

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Tim-Thilo Fellmer kennt das Gefühl. "Bei der Arbeit versuchte ich, mir mit aufgemalten Symbolen und auswendig gelernten Spickzetteln alles zu merken", erzählt der Frankfurter. Mit Mitte 20 war der Leidensdruck so groß, dass Fellmer sich bei einem Lese- und Schreibkursus anmeldete, dem ersten von vielen. Heute ist der 43-Jährige Kinderbuchautor, unterstützt Internet-Lernportale wie Legakids.net und arbeitet als Botschafter des Bundesverbandes Alphabetisierung. Der gemeinnützige Verband mit Sitz in Münster macht zum heutigen Weltalphabetisierungstag der Unesco auf die Probleme dieser Menschen aufmerksam.

Bei Tim-Thilo Fellmer etwa wurde schon in der zweiten Klasse Legasthenie festgestellt. "Ich fühlte mich überfordert und zu dumm, meine Schwäche kompensierte ich, indem ich den Klassenclown oder Rüpel gab und den Unterricht boykottierte." Von den Lehrern bekam er wenig Hilfe. "Sie schleppten mich elf Jahre lang mit durchs System bis zum Hauptschulabschluss." Er sieht das Bildungssystem in der Pflicht: "Kleinere Klassen machen für Lehrer eine individuelle Förderung überhaupt erst möglich, man darf Kinder nicht durchs Raster fallen lassen."

Nach Ansicht der Hamburger Professorin Anke Grotlüschen liegt das größte Problem in der Tabuisierung. "Niemand will sich eingestehen, ein Analphabet zu sein", sagt sie, "dabei hat das nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun." Anstatt Betroffene zu stigmatisieren, sollte ihnen unvoreingenommen Hilfe angeboten werden. Auch Jennifer Rischers will sich nicht mehr verstecken. Das tat sie jahrelang.

Mit ihrer Schwäche geht die junge Frau heute etwas offener um. "Früher bin ich selten ausgegangen aus Angst, dass ich wieder ausgelacht werde." Manchmal fühlt sie sich noch als Außenseiterin. Sie, die Analphabetin. "Ich frage mich heute noch, warum ich die Einzige in meiner Familie bin, die es nicht kann", sagt sie. Ihre beiden Geschwister hätten nie Probleme gehabt. Sie biss sich durch, machte ihren Hauptschulabschluss und begann eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau in einer Tierhandlung. Der Arbeitsalltag war eine Tortur. Immer wieder wurde sie von Kollegen angeraunzt, sie arbeite zu langsam. Dabei konnte sie nur nicht lesen. Seit einem halben Jahr arbeitet Rischers als Zeitarbeiterin in einer Fabrik am Fließband. Ihr gefällt die Arbeit, auch wenn sie früh aufstehen muss. Niemand verlangt von ihr, dass sie einen Bestellzettel ausfüllt. Lesen muss sie auch nichts. Die Wiederholung stärkt ihr Selbstbewusstsein, auch im Alltag. Im Supermarkt kauft sie jede Woche die gleichen Produkte ein. Abwechslung kann sie sich nicht leisten. Ihr Leben ist Wiederholung.