Von wegen verzogen und egoistisch: Einzelkinder seien kontaktfreudiger und seltener neidisch, wie Forscher herausgefunden haben.

München. Der französische Philosoph und Dramatiker Jean-Paul Sartre konnte schon mit fünf Jahren lesen, litt aber sein Leben lang darunter, als Kind "keinen Gefährten gehabt" zu haben. Hollywoodstar Natalie Portman, 30, hat von der ungeteilten Aufmerksamkeit der Familie profitiert. "Wenn ich Brüder oder Schwestern hätte, dann wäre ich nie Schauspielerin geworden. Meine Mutter hat mich zu jedem Vorsprechen und zu jeder Schauspielklasse begleitet. Mit mehreren Kindern wäre das nicht zu verwirklichen gewesen", bekannte die Amerikanerin.

Einzelkinder gelten gemeinhin als verwöhnt und egoistisch, weil sie nicht teilen mussten. Wissenschaftlern zufolge ist an diesen Klischees aber nichts dran. Kindern ohne Geschwister falle es sogar leichter, auf andere zuzugehen. Experten sind zudem der Meinung, "das" Einzelkind gebe es nicht und immer mehr von ihnen schon gar nicht.

Rund 22 Prozent aller Kinder in Deutschland bleiben geschwisterlos. 1991 waren es noch 27 Prozent. In Hamburg hingegen steigt der Anteil leicht: Von den 263 000 Kindern in der Hansestadt haben 74 000 keine Geschwister, wie das Statistikamt Nord jetzt mitteilte. Das sind 28,1 Prozent. Zehn Jahre zuvor waren es noch 26,8 Prozent. In Schleswig-Holstein sind nach der jüngsten Erhebung 120 000 von insgesamt 480 000 Kindern "solo".

Christian Alt vom Deutschen Jugendinstitut in München fand bei seinen Forschungen keines der üblichen Vorurteile gegenüber Einzelkindern bestätigt. "Dass sie manchmal altklug erscheinen, liegt lediglich daran, dass sie sehr früh gelernt haben, die Erwachsenensprache zu verwenden", sagte der Soziologe. Dies verschaffe Einzelkindern zwar verbal und in der Schule einen deutlichen Vorsprung, der sich aber im Laufe der Zeit relativiere.

Einzelkinder können häufig schlechter streiten

Auch die Wissenschaftsjournalistin Brigitte Blöchlinger aus Zürich, selbst aufgewachsen mit drei Geschwistern und heute Mutter einer Tochter, sagt: "Es gibt keinen typischen Einzelkind-Charakter." Sie hat sich intensiv mit Studien zu dem Thema beschäftigt und fand nur zwei offensichtliche Unterschiede zu Kindern mit Geschwistern. "Einzelkinder können häufig nicht so gut streiten und sind deutlich extrovertierter als Geschwisterkinder." Dies aber sei durchaus nachvollziehbar, denn wer als Kind ohne Geschwister aufwächst, lernt schnell, auf andere zuzugehen und zu kooperieren, um nicht alleine spielen zu müssen.

Freunden schreiben die Experten demnach eine ganz besondere Rolle zu. Christian Alt rät Eltern von Einzelkindern, dem Nachwuchs möglichst viele Gelegenheiten zu geben, fehlende Geschwister durch andere Kinder zu ersetzen. "Kinder lernen am besten in hierarchiefreien Räumen, da spielen die Gleichaltrigen eine wichtige Rolle."

Erika Wenck, Leiterin des Internationalen Kinderladens in Hamburg-Altona, hält es ebenfalls für wichtig, dass sich Kinder mit gleich Starken zusammentun können. "Einzelkindern fehlt naturgegeben die Möglichkeit, sich mal gegen die Eltern oder andere Erwachsene verbünden zu können." Diese Erfahrung aber sei enorm wichtig - im Verbund mit anderen Kindern könnten sie die Erfahrung machen, dass sie selbst etwas bewirken und ihre Interessen durchsetzen können.

Als nachteilig in der Situation als Einzelkind sehen die Experten vor allem eines: "Eltern neigen dazu, ihre Kinder als Projektionsfläche für eigene Vorstellungen zu nutzen", sagt Christian Alt. "Diese Gefahr besteht für Einzelkinder besonders." In Familien mit Geschwistern verteilen sich Erwartungen und Anforderungen der Eltern.

Die positive Kehrseite der fokussierten Aufmerksamkeit in Ein-Kind-Familien zeigt sich dafür häufig in einem gesunden Selbstbewusstsein des Sprösslings. "Das Gefühl, etwas Einzigartiges zu sein, macht stark", weiß Brigitte Blöchlinger. Ebenso scheint der enge Kontakt zu den Eltern ohne einen "Rivalen" an der Seite auch auf längere Sicht zu weniger Neidgefühlen im Leben zu führen. Alle Eltern, besonders aber Mütter und Väter mit nur einem Kind, sollten ihre eigenen Bedürfnisse ernst nehmen und gegenüber dem Kind verteidigen. So lerne ein Einzelkind am einfachsten, dass es auch andere Bedürfnisse als nur die eigenen gibt, sagt Blöchlinger.

Schwieriger als im Geschwisterverbund wird die Situation für Einzelkinder im späteren Erwachsenenalter, etwa dann, wenn die eigenen Eltern gebrechlich und pflegebedürftig werden. "Viele empfinden die Familie dann als eng und schmal und wünschen sich Geschwister, um sich unterstützen zu können", sagt Alt.

Mit Material von dpa