In Deutschland wächst derzeit durchschnittlich jedes vierte Kind ohne Geschwister auf. Für das Deutsche Jugendinstitut ist das kein Manko.

Wiesbaden. Ist Deutschland ein Land von Einzelkindern? Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, wächst in der Bundesrepublik derzeit jedes vierte Kind ohne Geschwister auf. Bei 13,3 Millionen Kindern macht das eine Menge von 3,33 Millionen Einzelkindern. Für Experten ist das jedoch kein Problem: „Es ist heute kein Manko, ein Einzelkind zu sein“, sagt Christian Alt vom Deutschen Jugendinstitut in München. „In der Summe sind Einzelkinder nicht besser und nicht schlechter dran als Geschwisterkinder.“ Berühmte Beispiele sind der Philosoph Jean-Paul Sartre, die Schauspielerin Marilyn Monroe oder die Sängerin Shakira, die es als Einzelkind weltweit zu Ruhm gebracht haben. Alte Vorurteile wie das vom verwöhnten Egoisten, der das Rampenlicht gewohnt ist, lassen sich nach Einschätzung von Fachleuten nicht belegen.

Geschwisterkinder erziehen sich gegenseitig und lernen voneinander, zählt die Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes, Paula Honkanen-Schoberth, Vorteile auf. „Einzelkinder stehen allein gegen die Elternfront.“ Andererseits hätten ihre Eltern aber meist auch mehr Zeit für sie. „Das birgt auch die Gefahr, dass die Eltern alle ihre Hoffnungen und Erwartungen auf das eine Kind richten.“ Mit der Pflege der alternden Eltern seien Einzelkinder zudem allein.

Egoistischer seien Einzelkinder jedoch keineswegs, „oft sind sie sogar sozialer und geben gerne weiter, weil sie so viel bekommen haben“, berichtet Honkanen-Schoberth. Alt sieht bei der Medien- Nutzung einen deutlichen Vorteil für Einzelkinder. „Sie müssen den Computer nicht mit Geschwistern teilen.“ Andererseits zeigten Studien, dass Jungen und Mädchen im Umgang mit Computern erheblich von Geschwistern profitierten, die mindestens vier Jahre älter seien.

Aber längst nicht alle Einzelkinder bleiben auf Dauer Einzelkinder, wie Alt betont. Mindestens zwei Drittel aller Kinder in Deutschland haben wenigstens einen Bruder oder eine Schwester. „Die Leute wollen am liebsten zwei Kinder, und zwar erst einen Jungen und dann ein Mädchen.“ Daran habe sich seit Jahrzehnten nichts geändert. In anderen Fällen sorgt ein neuer Partner eines alleinerziehenden Elternteils mit seinem Nachwuchs für eine Patchworkfamilie.

Dass es in vielen Fällen bei nur einem Kind bleibt, begründet Honkanen-Schoberth vor allem mit der Schwierigkeit, Familie und Beruf zu vereinbaren. Dazu kämen die Angst vor Arbeitslosigkeit und davor, die Kinder möglicherweise alleine groß ziehen zu müssen. „Wo es sichere Zukunftsperspektiven, familienfreundliche Arbeitsplätze, gute Betreuung und finanzielle Sicherheit gibt, ist die Wahrscheinlichkeit auch größer, viele Kinder zu bekommen.“

Im Osten Deutschlands jedenfalls hat die Zahl der Einzelkinder in den vergangenen Jahren – anders als im Westen – deutlich zugenommen, wie das Statistische Bundesamt berichtet. 35 Prozent der rund 2,1 Millionen Minderjährigen wuchsen dort 2009 ohne Geschwister auf, 13 Jahre zuvor waren es nur 29 Prozent. Im Westen hingegen liegt der Anteil in diesem Zeitraum unverändert bei 23 Prozent.

Und Honkanen-Schoberth rät: Eltern von Einzelkindern sollten schon früh Kontakte ihrer Kinder zu Freunden, Cousins und Cousinen fördern. Kinder, die ausschließlich bei Erwachsenen groß würden, bräuchten früh Gruppen – etwa in Kitas oder Sportvereinen – um von anderen Kindern zu lernen und sich mit ihnen messen zu können.