Alessia und Livia sind tot. Dies schrieb der Vater der Mädchen in einem Brief an seine Frau, bevor er sich selbst das Leben nahm.

Lausanne/Saint-Sulpice. Schreckliche Wendung im Fall der vermissten Zwillingsmädchen aus der Schweiz: Demnach soll es Gewissheit geben, dass die jeweils sechs Jahre alten Alessia un Livia nicht mehr leben. In einem Brief an seine Frau schrieb der 43 Jahre alte Vater der Zwillinge, dass er sie getötet habe. Dies bestätigte die Polizei am Freitag. Weiter habe es in dem Schreiben vom 3. Februar geheißen: „Sie ruhen in Frieden. Sie haben nicht gelitten“, erklärte Polizeisprecher Jean-Christophe Sauterel. Weiter habe der Mann erklärt, sich im süditalienischen Cerignola das Leben nehmen zu wollen. Am selben Tag warf er sich dort vor einen Zug.

Die sechs Jahre alten Zwillinge Alessia und Livia waren seit Ende Januar vermisst. Die Polizei betonte allerdings, dass es außer dem Brief keine anderen Hinweise auf den Tod der Mädchen gebe. „Wir haben keine Sicherheit, dass sie leben oder tot sind“, sagte Sauterel.

Die Polizei hatte nach eigenen Angaben in Absprache mit den Betroffenen und den Ermittlungsbehörden den Inhalt des Briefes zunächst aus ermittlungstaktischen Gründen verschwiegen. Das Schreiben habe erst genau analysiert werden müssen, um gegebenenfalls Hinweise auf den Aufenthaltsort der Sechsjährigen zu finden. Der Vater hatte die Mädchen Ende Januar bei seiner von ihm getrennt lebenden Frau abgeholt. Sie wollte sich scheiden lassen. Anstatt die Kinder in die Schule zu bringen, verschwand der 43-Jährige mit ihnen.

Am Donnerstag hatten sich die Hinweise auf ein Verbrechen verdichtet. So hat die Polizei Beweise, dass der Vater am 1. Februar ohne seine Kinder mit einer Fähre von der französischen Mittelmeerinsel Korsika zurück in die Hafenstadt Toulon gefahren war. Bei der Hinfahrt auf die Insel in der Nacht zuvor sollen Alessia und Livia nach Zeugenaussagen aber noch bei ihm gewesen sein. Die Suche nach den Kindern konzentriert sich daher auf Korsika.

Die Leiche des Vaters ist nach einer Obduktion offiziell freigegeben worden, berichtete die italienische Nachrichtenagentur Ansa aus Cerignola. Der Tote könnte jetzt in die Schweiz übergeführt werden, jedoch hätten sich zunächst keine Angehörigen des Schweizers dazu bereiterklärt.

Nach Angaben aus Ermittlerkreisen soll es bereits im Testament des Vaters Hinweise auf seine Pläne zur Tötung der Kinder gegeben haben. Paradoxerweise habe der 43-Jährige aber im gleichen Text die Zwillinge als seine Universalerben eingesetzt, berichtete die französische Tageszeitung „Le Parisien“ am Freitag. Ungutes verhieß aber die Formulierung, dass im Fall deren Abwesenheit, seine Mutter, seine Schwester oder sein Bruder seinen Nachlass erhalten sollten. Das Testament war bereits vor Tagen in der Schweizer Wohnung des Vaters in St-Sulpice bei Lausanne entdeckt worden.

Nach einem Bericht der Schweizer Nachrichtenagentur SDA haben sich am Freitag erstmals auch Verwandte des 43-Jährigen geäußert. Sie seien überzeugt, dass ihr Sohn und Bruder unter einer „schweren seelischen Störung“ gelitten haben müsse, heißt es in einer Erklärung. Nur der „Verlust seiner normalen Persönlichkeit“ könne erklären, dass er so schreckliche Taten vollbringen konnte. Sie hätten ihn „immer als liebevollen und fürsorglichen Vater erlebt“, dem seine Familie alles bedeutet habe.

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Seit zehn Tagen wartet die Mutter von Alessia und Livia aus Saint-Sulpice bei Lausanne in der Schweiz auf ein Lebenszeichen ihrer Töchter. Die sechsjährigen Zwillinge waren von ihrem Vater entführt worden. In Süditalien warf sich der 43 Jahre alte Ingenieur kanadischer Abstammung am 3. Februar vor einen Zug. Motiv: die Trennung von seiner Frau. Seitdem sind die Kinder verschwunden.

Nun gibt es offenbar Zeugen, die sich bei der Polizei in Frankreich gemeldet haben. Sie wollen den Vater mit seinen Mädchen auf der "Scandola"-Fähre von Marseille nach Korsika gesehen haben, erläuterte die Staatsanwaltschaft der französischen Stadt. Eine Mitreisende habe Alessia und Livia erkannt. Sie hätten in der Kabine neben ihr geschlafen. Später seien die Zwillinge in einer Spielecke aufgetaucht. Sie seien verweint gewesen. Nach Medienberichten ging es dabei um eine Nachtfähre Ende Januar. Das genaue Datum ist nicht genannt worden.

Auf Korsika verliert sich die Spur der Schülerinnen. Ein weiterer Zeuge will sie noch im südkorsischen Hafen Propriano "von Weitem" gesehen haben. Doch ob es sich dabei tatsächlich um Alessia und Livia gehandelt habe, ist laut französischer Staatsanwaltschaft unklar. Möglicherweise hat der Vater die Kleinen auf der Insel gelassen, bevor er nach Italien weitergereist ist.

Die Schweizer Polizei hat indessen ihre Ermittlungen ausgeweitet. Die Experten sperrten das Wohnhaus des Familienvaters in Saint-Sulpice in der Schweiz ab. Unter anderem sei der Garten des Hauses umgegraben worden. Zudem wurden Suchhunde eingesetzt. Nachbarn und Angehörige seien befragt worden. Ob die Aktion Ergebnisse brachte, blieb zunächst unklar.

Der Vater hatte die Mädchen vor anderthalb Wochen bei seiner von ihm getrennt lebenden italienisch-schweizerischen Frau abgeholt, die sich scheiden lassen wollte. In der Familie hatte es schon seit Längerem Probleme gegeben; die Polizei spricht von einer schwierigen Trennungssituation. Alessia und Livia lebten bei ihrer Mutter. Der Vater, der im selben Dorf am Genfer See wohnte, sah seine Töchter an den Wochenenden - auch am 30. Januar. Doch anstatt die Kinder in die Schule zu bringen, verschwand er mit ihnen im Audi A6 seiner Frau - ohne Kindersitze, Ausweise oder Kleidung der Mädchen. Er schickte noch eine SMS an seine Frau, er werde die Zwillinge am nächsten Morgen direkt in die Schule bringen. Einen Tag später schrieb er aus Marseille eine Karte, er sei verzweifelt und wolle ohne sie nicht leben.

Was von Ermittlern und Medien bisher an Puzzleteilen zusammengetragen wurde, ergibt nur ein sehr lückenhaftes Bild. Nach einer ersten Rekonstruktion war er mit den Kindern zunächst nach Frankreich gefahren, wo er mehr als 7000 Euro vom Konto abhob. Später trafen mehrere in Italien abgeschickte Briefumschläge mit 50-Euro-Scheinen im Gesamtwert von mindestens 4400 Euro bei der Mutter der Kinder ein. Sie trugen die Handschrift des Mannes, ein Schreiben lag nicht bei.

Damit zerschlug sich die Hoffnung der Familie, er könnte mit dem Geld jemanden bezahlt haben, um auf seine Mädchen aufzupassen. Die Mutter sagte, sie habe Angst, dass ihren Kindern etwas Schlimmes passiert sei.

"Auch wenn immer noch alles möglich ist und wir die Leichen der Kinder noch nicht gefunden haben, müssen wir die düstere Annahme ins Auge fassen", sagte Staatsanwalt Jacques Dallest in Marseille. Interpol hat inzwischen alle 188 Mitgliedstaaten alarmiert und eine sogenannte gelbe Nachricht veröffentlicht, mit der über verschwundene Personen informiert wird.

Mit Material von dpa