Concepción. Angesichts der nur schleppend angelaufenen Hilfe hat sich die Lage in Chiles Erdbebengebiet zugespitzt. In Vororten der Stadt Concepción, die von dem Beben besonders betroffen ist, lieferten sich Plünderer Schießereien mit bewaffneten Bürgerwehren und dem Militär. Präsidentin Michelle Bachelet stockte das Militär in den Krisengebieten auf insgesamt 14 000 Soldaten auf.

Unter Missachtung der nächtlichen Ausgangssperre errichteten Einwohner in der wegen Stromausfalls dunklen Stadt bis zum Morgen Barrikaden, an denen sie Plakate mit Warnungen gegen Plünderer befestigten. Ein Supermarkt und ein Einkaufszentrum gingen in Flammen auf, 20 Menschen starben. Bei Schießereien kamen zwei Menschen ums Leben, 160 wurden festgenommen.

"Unsere Verwandten in Concepción haben alles verloren. Aber sie leben", berichtete Abendblatt-Fotoreporter Marcelo Hernandez, der zurzeit seine Familie in Viña del Mar besucht (wir berichteten). "In einigen Stadtteilen herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Viele Menschen fühlen sich im Stich gelassen und plündern Wasser und Lebensmittel. Es gibt auch Kriminelle, die versuchen, das Chaos für sich auszunutzen - eine explosive Mischung." Für viele seien die Plünderungen die weitaus größere Katastrophe. "Statt Hilfsgüter zu verteilen, müssen Polizisten Supermärkte verteidigen - absurd", sagte Hernandez. "Zudem sind Straßen zerstört. Benzin und Diesel sind knapp." Kleiner Lichtblick: Erste Hilfsschiffe sind unterwegs und US-Außenministerin Hillary Clinton, die gestern in Chile eintraf, brachte unter anderem 25 Satellitentelefone mit, um die Kommunikation in den Katastrophengebieten zu verbessern.

Einige Städte wie Chillán, Curico und Lota sind immer noch von der Außenwelt abgeschnitten. Durch das Erdbeben und die folgenden Flutwellen kamen bisher mindestens 795 Menschen ums Leben. In Viña del Mar selbst sind noch alle zwei Stunden leichte Nachbeben zu spüren. "Die Stimmung ist bedrückend. Trotzdem stellt sich langsam der Alltag wieder ein", sagt Hernandez. Der gebürtige Chilene berichtete von einer irrtümlichen Tsunamiwarnung in Valparaíso. "Menschen wurden am Sonntag per Megafon auf der Straße gewarnt. Das löste eine wahnsinnige Panik aus. Tausende rannten in die Berge." Dabei hatte sich das Wasser nur zurückgezogen, weil Vollmond war. "Das wurde falsch interpretiert." Das schwere Erdbeben in Chile hat offenbar zu einer Verschiebung der Erdachse geführt. Nach Berechnungen von Richard Gross, Wissenschaftler der US-Raumfahrtbehörde Nasa, habe sich die Achse durch das Beben der Stärke 8,8 um acht Zentimeter verschoben. Sollte sich dies bestätigen, würde das bedeuten, dass die Tage - für den Menschen allerdings nicht wahrnehmbar - künftig um 1,26 Mikrosekunden kürzer sind. Eine Mikrosekunde entspricht dem millionsten Teil einer Sekunde.