Aufruhr und Angst im Pazifikraum. In Chile werden die ersten Auswirkungen des schweren Bebens sichtbar. Auf Hawaii sind Evakuierungen im Gange. Menschen stürmen Supermärkte und decken sich mit Essen, Wasser und Konserven ein. Zwei Abendblatt-Reporterinnen sind vor Ort und berichten.

Santiago de Chile. Eines der schwersten jemals gemessenen Erdbeben hat Chile erschüttert und mindestens 150 Menschen in den Tod gerissen. Das Jahrhundertbeben am frühen Sonnabend erreichte die Stärke 8,8 und löste eine Flutwelle aus. Für nahezu die gesamte Pazifik-Region wurde eine Warnung vor einem Tsunami ausgerufen. Die südamerikanischen Küsten blieben jedoch weitgehend verschont.

Hawaii, Japan und Neuseeland bereiteten sich unterdessen auf die mögliche Flutwelle vor. Auf Hawaii wird die erste Welle um 11.19 Uhr Ortszeit (22.19 Uhr MEZ) erwartet. Der US-amerikanische Nachrichtensender CNN berichtet, es werde mit einer rund 4,5 Meter hohen Welle gerechnet.

Nach Informationen von Abendblatt-Reporterin Sophie Laufer, die sich derzeit auf der Insel "Big Island" aufhält, werden seit 6 Uhr (Ortszeit/17 Uhr MEZ) gefährdete Gebiete evakuiert. "Die Sirenen heulen in bestimmten Abständen und warnen die Menschen", sagte sie. Etwa zwei Stunden vor Auftreffen der Welle würden die Abstände der Sirenenwarnung kürzer.

Derzeit würden tsunamigefährdete Gebiete von Hawaii evakuiert, berichtet Laufer weiter. "Strände werden gesperrt und viele in Strandnähe gelegene Golfplätze." Vor allem Surfer hielten sich hier auch nachts an den Stränden auf. Besonders gefährdet sei Honolulu, da die Stadt in Meeresspiegelhöhe liege.

"Zudem bilden sich an den Tankstellen lange Schlagen, weil die Leute in Höhe gelegene Gebiete der Inselgruppen fliehen wollen", berichtet die Abendblatt-Reporterin. Zudem seien Menschen in Supermärkte gefahren, um sich dort mit Wasser, Lebensmittel, Batterien und anderen lebensnotwendigen Dingen einzudecken. Der unweit des Hotels gelegene Supermarkt habe bereits seit 5.30 Uhr geöffnet, um den Menschen das Einkaufen zu ermöglichen., berichtet Laufer. Inzwischen seien auf Big Island alle Shops geschlossen worden.

Abendblatt-Reporterin Maike Schiller, die sich derzeit auf der Insel Kauai aufhält, berichtet, dass auch auf dieser Insel inzwischen alle in Strandnähe gelgenen Hotels evakuiert werden. Derzeit sei das örtliche Telefonnetz stark belastet. Unter vielen Servicenummern erreiche man derzeit niemanden. Die örtlichen Behörden bitten zudem, die übliche Notfallnummer 911 noch für andere Notfälle freizuhalten.

Die Menschen selbst würden die Tsunamiwarnung mit Ruhe und Gelassenheit aufnehmen, berichtet Schiller weiter. Sie sei in der Nacht vom Hotelpersonal geweckt und über die Tsunamiwarnung informiert worden. Allerdings gebe es keine Panik. Hawaii verfügt seit längeren über detaillierte Tsunami-Notpläne, die vorsehen, aus welchen Gebieten die Menschen fliehen müssen. Besonders gefährdet seien die Küstenstreifen im Süden und Osten.

Das Wetter sei bislang wunderschön, berichtet Laufer weiter. "Das Meer liegt ruhig da, es ist fast schon ein wenig unheimlich", sagt sie.

Chiles Staatspräsidentin Michelle Bachelet rief für die besonders betroffenen Regionen im Süden der Hauptstadt Katastrophenalarm aus. Der gewählte Präsident Sebastián Piñera, der das Amt am 11. März übernehmen soll, rief die ganze Gesellschaft zur Solidarität mit den Opfern auf. „Das Erdbeben ist ein schwerer Schlag für die chilenische Gesellschaft“, räumte der konservative Politiker ein.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) sprach den Opfern sein Mitgefühl aus. „Mit großer Betroffenheit und Sorge haben wir die Nachricht von dem schweren Erdbeben vor der chilenischen Küste erhalten“, sagte Westerwelle nach Angaben des Auswärtigen Amtes. „Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind bei den Angehörigen der Opfer und den Verletzten.“ Im Tagesverlauf werde der Krisenstab im Auswärtigen Amt zusammenkommen, um über die Folgen der Katastrophe zu beraten. Am Samstagabend breche ein Erkundungsteam des Technischen Hilfswerks nach Chile auf.

In Chile gibt es zahlreiche deutsche Institutionen und in der besonders betroffenen Region um Concepción leben besonders viele Nachfahren deutscher Auswanderer. Auch die von Deutschen gegründete berüchtigte frühere sektenartige Siedlung „Colonia Dignidad“ (Kolonie der Würde) befindet sich in der Katastrophenregion.

Die mächtigen Erdstöße um 3.34 Uhr Ortszeit hatten die Menschen im Schlaf überrascht. Hunderttausende rannten in Panik aus ihren Häusern und kampierten aus Angst vor Nachbeben im Freien. Das Epizentrum lag nach Angaben der US-Erdbebenwarte etwa 92 Kilometer nordwestlich der Stadt Concepción. Die Erde bebte in fast 60 Kilometern Tiefe. In schneller Folge gab es mehr als 20 Nachbeben mit Stärken von bis zu 6,9. Hunderte unter Trümmern vermutet

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Hunderte Menschen wurden noch unter den Trümmern vermutet. Die Behörden rechneten damit, dass die Opferzahlen stündlich steigen. „Die Opferzahlen werden leider sicher noch steigen“, sagte Piñera. Das ganze Ausmaß der Zerstörung vor allem in der Region um die Großstadt Concepción etwa 500 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago war auch Stunden nach dem Beben unklar. Die chilenische Küstenstadt Talcahuano wurde von einer 2,3 Meter hohen Welle getroffen.

Der Sitz der Regionalregierung soll zerstört worden sein. Mauern von Gefängnissen und mehrstöckige Gebäude stürzten ein. „So etwas habe ich noch niemals zuvor gesehen“, sagte eine fassungslose Frau, die mit einer Wolldecke um den Schultern auf der Straße stand. Ein TV-Reporter berichtete: „Es gibt keine Straße in Concepción, wo kein Schutt liegt. Man hört Kinder unter den Trümmer schreien."

Ein Erdbeben der Stärke 8,8 gilt als Großbeben, bei dem normalerweise mit vielen Opfern und schweren Verwüstungen zu rechnen ist. Das heftigste je auf der Erde gemessene Beben hatte eine Stärke von 9,5 und ereignete sich 1960 ebenfalls in Chile. Damals starben 1655 Menschen.

Noch Stunden nach dem Beben standen viele Menschen in Pazifik- Anrainerstaaten Ängste vor einem Tsunami aus. Erinnerungen an die Naturkatastrophe in Südostasien wurden wach. Weihnachten 2004 hatten Riesenwellen mehr als 230.000 Menschen getötet. Der Tsunami damals war nach einem 9,1-Erdbeben vor der indonesischen Insel Sumatra über umliegenden Küsten hereingebrochen.

Das chilenische Fernsehen zeigte nach der Katastrophe Bilder von eingestürzten Wohnhäusern, Krankenhäusern, brennenden Gebäuden, zerstörten Brücken, auch in Santiago. Vor allem an älteren historischen Gebäuden wie Kirchen und Lehmziegelbauten entstanden schwere Schäden.

In der Hauptstadt stürzten auch neue Autobahnbrücken ein. Die wichtigste Straßenverbindung, die Fernstraße Nummer 5 von Santiago in die besonders betroffenen Gebiete war zunächst unterbrochen. Von einer mächtigen steinernen Bogenbrücke über den Fluss Rio Claro blieben nur die Pfeiler stehen. Bei Concepción stürzte eine alte, nicht mehr genutzte Brücke über den breiten Fluss Bío Bío komplett ein. Internet und Telefone funktionierten nicht. Die Strom-, Gas- und Wasserversorgung brach zusammen. Die Hochhäuser in Santiago hielten den heftigen Erdstößen jedoch stand. Flughafen in Santiago geschlossen

Der internationale Flughafen von Santiago wurde erheblich beschädigt und für mindestens eine Woche geschlossen. Im Fernsehen waren eine eingestürzte Fußgängerbrücke zum Abflugbereich des Flughafens und heruntergefallene Deckenverkleidungen zu sehen. Die Behörden überprüften außerdem die Landebahn auf mögliche Schäden. Der Flughafenchef konnte zunächst nicht sagen, wann der Flugbetrieb wieder aufgenommen werden kann. Dies könnte auch die für den 11. März vorgesehene Amtseinführung von Piñera behindern.

Präsidentin Bachelet rief die Menschen auf, Ruhe zu bewahren und zu Hause zu bleiben. Sie flog in das Katastrophengebiet und versprach den Opfern schnelle Hilfe. An der Küste nahe dem Epizentrum löste der Tsunami Überschwemmungen aus. Der Blogger Leo Perieto berichtete im amerikanischen Nachrichtensender CNN, das Erdbeben habe nach seinem Eindruck etwa drei bis fünf Minuten gedauert. Andere Augenzeugen sprachen von 45 Sekunden. Perieto sagte, er habe schon früher ein Erdbeben erlebt, doch dies sei deutlich stärker gewesen. EU verspricht Hilfe

Die Europäische Union erklärte sich zu rascher Hilfe für Opfer des Erdbebens in Chile bereit. In einer Erklärung der zuständigen EU-Kommissarin Kristalina Georgiewa in Brüssel hieß es, die Kommission stelle derzeit fest, welche Art von Hilfe benötigt werde. „Die Kommission ist zu sofortiger Hilfe und Koordinierung der europäischen Hilfe bereit, sollte dies nötig sein.“

Auch die südjapanische Inselprovinz Okinawa war am frühen Sonnabend von einem Erdbeben der Stärke 6,9 heimgesucht worden. Das Beben verlief jedoch glimpflich. Zwei Menschen wurden leicht verletzt.Von der Tsunami-Warnung nicht betroffen sind bislang lediglich die Küsten der US-Bundesstaaten Kalifornien, Oregon, Washington, Alaska sowie die kanadische Provinz British Columbia. Das Warnzentrum betonte, dass sich der Tsunami in einer Serie von Wellen ausbreitet. Die Abstände zwischen den Wellen könnten bis zu eine Stunde lang sein.