Nicht nur der Klimawandel ist schuld: Viele der zerstörten Gebäude waren illegal gebaut worden. Selbst in ausgetrockneten Flussbetten gab es Häuser.

Istanbul. Das Wasser ist noch nicht vollständig abgeflossen, da beginnt in der Türkei bereits die Suche nach den Schuldigen. Während zahlreiche Politiker die außergewöhnlich schweren Regenfälle der vergangenen Tage, die schlimmsten seit 80 Jahren, zu Anfang noch auf den Klimawandel geschoben hatten, räumten sie nun Versäumnisse ein. Der Oberbürgermeister von Istanbul, Kadir Topbas, gab zu: "Für das Unglück sind Menschen verantwortlich, nicht die Natur." Damit meinte der 64-Jährige die illegalen Bauprojekte, die überall in der Türkei aus dem Boden sprießen. Zwar sind die Vergehen größtenteils bekannt, werden aber meist toleriert. In einigen Stadtteilen Istanbuls sind bis zu 90 Prozent der Gebäude ohne Genehmigung errichtet worden. Diese Siedlungen wurden bei den Unwettern und Überschwemmungen der vergangenen Tage nicht nur zerstört, sondern haben diese wahrscheinlich zum großen Teil mit begünstigt.

Der türkische Verkehrsminister, Benali Yildirim, vermutete, dass die Regenstürme "in anderen Ländern nicht solche Folgen gehabt hätten" - vor allem da im Nordwesten der Türkei viele Häuser sogar in ausgetrockneten Flussbetten gebaut wurden. Der WWF Deutschland forderte daher gestern die türkischen Behörden auf, die zerstörten Siedlungen in Risikogebieten nicht wieder aufzubauen. Der Leiter des Bereiches Flussmanagement, Martin Geiger, erklärte dazu: "Man muss dem Wasser natürliche Abflusswege zugestehen."

Bevor es an einen Neuaufbau geht, für den der Innenminister Besir Atalay bereits Hilfen versprach, begannen in den zerstörten Gebieten die Aufräumarbeiten. Mit schwerem Gerät kämpften sich die Helfer durch bis zu zwei Meter hohe Schlammschichten und Wrackteile. Erste Schätzungen gehen von einem Sachschaden von 62 Millionen Euro aus. Viele Häuser sind schwer beschädigt und daher unbewohnbar. In der Nacht zu gestern musste ein achtstöckiges Gebäude wegen Einsturzgefahr geräumt werden.

Die Zahl der Todesopfer erhöhte sich unterdessen auf mindestens 33. Allein im Großraum Istanbul wurden 24 Menschen geborgen, in der Stadt Saray fand man die Leiche eines vermissten Familienvaters, der wie seine Frau und die drei Töchter bereits am Dienstag von den Wassermassen getötet worden war. In einigen anderen Fällen ermittelt nun auch die Staatsanwaltschaft. So starben die sieben Frauen vor der Textilfabrik im Stadtteil Halkali nicht, wie zuerst berichtet, als sie aus dem Bus ausstiegen, sondern ertranken in dem Fahrzeug. Der Transporter war nicht für die Personenbeförderung geeignet und hatte keine Fenster, die als Fluchtweg hätten dienen können. Ein Richter erließ gestern Haftbefehl gegen den Inhaber der Textilfirma. Auch ein leitender Mitarbeiter kam wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung in Untersuchungshaft.

Auch gegen 61 Personen, die in Gewahrsam genommen wurden, wird ermittelt, allerdings wegen Plünderung und Diebstahls. Sie hatten Geschäfte und verlassene Autos durchsucht. Aus einem Lkw wurden 20 Jagdgewehre entwendet. Die Polizei versucht, mit einem verstärkten Aufgebot der Lage Herr zu werden.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der von der "größten Katastrophe des Jahrhunderts" sprach, erhielt von Kollegen aus aller Welt Beileidsbekundungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel versicherte ihrem türkischen Kollegen "die Anteilnahme der Menschen in Deutschland und mein ganz persönliches Mitgefühl". Auch der Präsident von Bulgarien, Georgi Parwanow, sprach sein Bedauern aus. Unter den Opfern war mindestens ein bulgarischer Staatsbürger. Für das Wochenende wurden wieder schwere Regenfälle vorhergesagt. Istanbuls Gouverneur, Muammer Güler: "Die Gefahr ist noch nicht gebannt. Allah steh uns bei."