Sebastian B., der gestern 37 Menschen verletzte und sich dann selbst tötete, war als Waffennarr bekannt. Die Bluttat “aus Rache“ hatte er sogar im Internet angekündigt.

Hamburg. "Indiscriminate Hate", wahlloser Hass. Der Filmtitel ist Programm. Das Mädchen mit den Zöpfen zittert in Todesangst, als ihm der Masken-Mann in Schwarz die Pumpgun auf das Herz drückt. Sekunden später liegt es leblos und blutüberströmt auf dem grauen Linoleum des Schulflurs, der Körper übersät von Einschüssen. Der Mann mit der Maske sucht sich die nächsten Opfer. Der Werbespot für einen Film über ein Massaker an einer Schule ist ganz nach dem Geschmack vieler Computernutzer. "Uuh, das ist so verdammt süß", steht da in den kurzen Kommentaren, "ich will eine Kopie davon!" oder: "Verdammt klasse und so wahr!"

Auch ein Eintrag von einem User namens "ResistantX" findet sich dort, abgegeben vor fünf Monaten: "Wo bekomme ich das, wo kann ich diesen Film sehen?", schreibt er fast atemlos. Hinter "ResistantX" verbirgt sich Sebastian B., 18 Jahre alt, aus dem Münsterland. Ein Internet-Freak, der zumindest in letzter Zeit in einer Art virtuellen Welt gelebt haben muss. Mit eigener Homepage, selbst gedrehten Videos, in denen er mit einer Pumpgun posiert, endlosen Listen seiner Lieblingsfilme. 1306 Videos hat er sich allein auf Youtube.com angesehen. Die letzten vor zwei Tagen.

Gestern dann setzte er in die Realität um, was der Realschul-Abgänger immer wieder konsumiert, nachgespielt und offensichtlich verinnerlicht hatte: Bewaffnet mit vier Gewehren, einem Messer und 13 Rohrbomben voller Sprengstoff am Körper, verletzte Sebastian B. bei einem Amoklauf in seiner ehemaligen Schule in Emsdetten insgesamt 37 Menschen.

"ResistantX" brachte das Grauen in die Kleinstadt im Münsterland. Dann tötete er sich selbst.

Karola Keller faltet ihre Hände. Die Direktorin der Geschwister-Scholl-Realschule sitzt am Nachmittag im Rathaus von Emsdetten vor Dutzenden Journalisten, die auf Erklärungen, auf Hintergründe warten zu dem schlimmsten Schul-Amoklauf in Deutschland, seit Robert Steinhäuser vor viereinhalb Jahren im Erfurter Gutenberg-Gymnasium insgesamt 16 Menschen erschoss.

Die Schulleiterin trägt Schwarz. Sie schließt die geröteten Augen, beißt sich auf die Lippen. Sie würde jetzt lieber über ihre Schule als einzigartige Ganztags-Realschule im Kreis Steinfurt reden, über das breit gefächterte Unterrichtsangebot für die 693 Schüler, die Hausaufgabenbetreuung, die vielen freiwilligen Arbeitsgemeinschaften. Über die Werte, die an der GSS vermittelt werden sollen: Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, soziale Kompetenz. Stattdessen sagt sie: "Wir haben die Detonationen gehört."

Zur großen Pause kurz vor halb zehn gestern Morgen hatte ihr ehemaliger Schüler Sebastian B. den Schulhof betreten. Der Junge, der - nach zweimaligem Sitzenbleiben - im Juni seinen Realschulabschluss erworben hat, trägt eine Maske. Durch eine Glastür geht er im knielangen schwarzen Mantel in die Pausenhalle. Er sieht aus wie in den Filmen, den Spielen, die er tausendfach gesehen, gespielt hat. "Pass auf, der bringt gleich alle um", sollen Schüler noch gesagt haben. Dann beginnt der 18-Jährige, wahllos zu schießen. Kugeln treffen den Hausmeister und einen Fünftklässler in den Bauch, drei weitere Schüler zwischen zwölf und 16 Jahren werden ebenfalls angeschossen. "Lauft, lauft, rennt nach Hause!", brüllt ein Lehrer.

Die Sekretärin alarmiert um 9.28 Uhr die Polizei.

Was dann in der Schule genau geschieht, ist bislang unklar. Immer mehr Polizeibeamte rasen zu dem dreistöckigen Flachbau. Als sie auf den Amokläufer treffen, zündet er Rauchbomben. 16 Polizisten erleiden Rauchvergiftungen. Sirenen erfüllen die Kleinstadt, Hubschrauber kreisen über den Häusern. Sebastian B. richtet sich selbst im zweiten Stock. Gegen 10.15 Uhr finden ihn Beamte eines Spezialeinsatzkommandos. Das Gesicht des 18-Jährigen ist zerfetzt. Seiner Leiche nähern sich selbst Experten über Stunden nur vorsichtig. Drähte an seinem Körper deuten auf Sprengstoff-Fallen.

In der 35 000-Einwohner-Stadt verbreitet sich die Nachricht von der Bluttat wie ein Lauffeuer. Viele haben an der Schule Kinder, Geschwister, Freunde - und wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist. "Mit der völlig aufgelösten Nachbarin bin ich zur Schule gerast, denn sie wusste nicht, ob ihre Tochter noch lebte", berichtet eine Mutter. "Wir haben sie zum Glück bald gefunden, durch eine Fensterscheibe einer benachbarten Sonderschule gesehen." Während Polizisten mit Spürhunden das Schulgebäude nach weiteren Sprengsätzen durchsuchen, liegen sich Eltern und ihre unversehrten Kinder weinend in den Armen. Schulpsychologen und Seelsorger spenden Trost.

"Ich hasse euch und eure Art. Ihr müsst alle sterben!" Mit grausiger Offenheit hat der Amokläufer von Emsdetten in einem Abschiedsbrief seine Tat im Internet angekündigt. Auf seiner inzwischen gesperrten Homepage posierte der Einzelgänger, der zur Bundeswehr wollte, im Tarnanzug mit Waffen und schwor den Schülern und Lehrern der Geschwister-Scholl-Realschule Rache. Einblicke in eine bizarre Welt, gefüllt mit aggressiven, teils wirren Aussagen. Als er 1998 auf die Schule gekommen sei, habe er Freunde finden und Spaß haben wollen, heißt es etwa. Doch sei es nur um Statussymbole wie die neuesten Klamotten und das neueste Handy gegangen. "Dann bin ich wach geworden. Mir wurde bewusst das ich mein Leben lang der Dumme für andere war und man sich über mich lustig machte. Und ich habe mir Rache geschworen", schreibt er. Einer, der in der Realität nicht mehr zurechtkam?

In jedem Fall waren seine Sätze eine Warnung, und nicht die einzige. Im Juni 2004 etwa postete "ResistantX" in einem Internet-Forum: "Ich fresse die ganze Wut in mich hinein, um sie irgendwann einmal rauszulassen . . . Für die, die es nicht verstanden haben: Ja, es geht hier um Amoklauf!" In anderen Foren erkundigt er sich, wie man Bomben bastelt: "Ich kann also Dünger zur Detonation bringen?"

Im vergangenen Sommer, berichtet die Mutter eines 15-Jährigen aus Emsdetten, habe ihr Sohn sich abends mit Freunden auf einem Spielplatz verabredet. Plötzlich tauchte aus dem Dunkel ein Mann auf, der brüllte: "Auf den Boden! Hände über den Kopf!" Für solche Auftritte, für Drohungen war Sebastian B. bekannt. "Ihr Modepüppchen seid als Erstes dran", soll er Mädchen im Ort eingeschüchtert haben.

Frustration und Hass, Verbitterung und Einsamkeit: "Er hat unter der Sinnleere seines Lebens gelitten", sagt der ermittelnde Oberstaatsanwalt Wolfgang Schweer. Sebastian B. - ein Sonderling mit zwei jüngeren Geschwistern, der sich angeblich gern auf Friedhöfen herumtrieb.

Die 15-jährige ehemalige Mitschülerin Lisa Gallern erzählt Reportern, früher habe sie manchmal etwas mit dem schlaksigen, meist dunkel gekleideten Jugendlichen unternommen: "Aber seit einem Jahr hat er sich total abgesondert. Warum weiß keiner." Statt etwas zu unternehmen, habe er zu Hause am Computer das als gewaltverherrlichend kritisierte Computerspiel "Counterstrike" gespielt - so wie auch der Erfurter Amokläufer Robert Steinhäuser. Sebastian B. soll dafür sogar den Grundriss der Schule nachgebaut haben. Über das Internet kaufte der 18-Jährige Waffen, Munition, Sprengstoffbestandteile und Zündschnüre. Schon auf der Schul-Abschlussfeier sagte er angeblich: "Die Lehrer werden schon noch was erleben", erzählt Lisa Gallern.

Heute sollte sich der Amokläufer vor dem Amtsgericht im benachbarten Rheine verantworten, in einem Prozess wegen unerlaubten Waffenbesitzes. "Kein Bulle hat das Recht mir meine Waffe wegzunehmen", heißt es in dem Abschiedsbrief. Sebastian B.s letzter Satz lautet: "Ich bin weg . . . " Selbst in der Garage seines Elternhauses, einem gepflegt erscheinenden Rotklinkerbau, fand die Polizei gestern noch Sprengstoff.