Maria Pöpke wollte im Dezember 1978 ihren Mann auf dem Frachter “München“ nach Savannah begleiten. Doch sie durfte nicht - und entging einer der größten Tragödien der deutschen Handelsschifffahrt.

Sittensen. Es war um die Mittagszeit am 12. Dezember 1978. Maria Pöpke aus Sittensen bei Hamburg wollte sich, da Ischiasschmerzen sie plagten, gerade hinlegen, als das Telefon klingelte. Am Apparat war ein Mitarbeiter der Hapag-Lloyd AG. Er hatte keine gute Nachricht: Der Frachter "München", auf dem ihr Mann unterwegs nach Savannah im US-Golf war, habe morgens um 3.10 Uhr "SOS" gefunkt. Sie brauche sich aber nicht zu sorgen: Nur selten bestehe bei Seenotrufen ernsthafte Gefahr.

25 Jahre später. Maria Pöpke (49) sitzt mit ihren zwei Söhnen Jan (32) und Jörn (24) in ihrem gemütlichen Haus in Sittensen. "Es ist, als wäre alles erst gestern geschehen", sagt sie bei Kerzenschein und Keksen. Nein, von Anfang an sei sie skeptisch gewesen: "Ich bekam bei dem Anruf von Hapag-Lloyd sofort Schüttelfrost. Ich rief meine Schwiegermutter an, die auch gleich zu mir kam." Lange ist es her, dass die gebürtige Wermelskirchenerin zuletzt über das Unglück gesprochen hat. Dennoch fällt es ihr nicht schwer, sich an alles zu erinnern. Sie weiß noch: "Man war geneigt, den Darstellungen von offizieller Seite zu glauben. Doch so recht konnte ich das nicht."

Und tatsächlich sah die Wirklichkeit in jenem Dezember vor 25 Jahren weit draußen auf dem Ozean ganz anders aus. In einem außergewöhnlich lang anhaltenden Orkan, der den Nordatlantik zu einem tobenden Riesenmonster machte, kämpfte die 28-köpfige Besatzung der "München" einen verzweifelten Kampf.

Er wird aussichtslos sein. 13 bis 14 Meter hohe Brecher rollen heran, Monsterwellen, mehr als 30 Meter hoch, türmen sich auf. Die "München", 80 Millionen Mark teuer und das Flaggschiff von Hapag-Lloyd, gibt den Notruf ab: "SOS SOS SOS DEAT DEAT DEAT Position 45 30N 22 20W forward . . . " DEAT - das ist das internationale Rufzeichen des deutschen LASH-Carriers.

Doch der Frachter kann trotz durchgegebener SOS-Position nicht gefunden werden - obwohl 110 Schiffe und 13 Flugzeuge das Gebiet um den Notrufpunkt in der bis heute größten und längsten Suchaktion der deutschen Seefahrt weitflächig abkämmten. Fast zwei Tage hat die Besatzung vermutlich auf dem sinkenden Schiff ausgeharrt - auf Retter gewartet, die 200 Kilometer enfernt suchten: Erst sehr viel später stellt sich heraus, dass die von Funker Jörg Ernst durchgegebene SOS-Position gut 170 Kilometer nördlich von der heute als sicher geltenden Unfallposition entfernt gelegen haben dürfte. Als Sinkzeitpunkt gilt das erste Funksignal der aufgetriebenen EPIRB-Boje des Schiffes. Es wurde am 13. Dezember 1978 um 11.08 Uhr aufgefangen. Doch erst am 22. Dezember wurde die Suchaktion eingestellt.

Maria Pöpke verfolgte das Schicksal der "München" und ihrer Besatzung mit wachsender Verzweiflung - und versuchte sich doch immer wieder zu beruhigen. Schon einmal hatte Reinhard Pöpke (damals 33), 2. Ladungsoffizier des Schiffes und seit eineinhalb Jahren Ehemann von Maria Pöpke, schließlich einen Orkan auf Leben und Tod überstanden. Deshalb habe er einmal gesagt: "So sicher wie auf einem Schiff ist man nirgendwo."

Dieses Gefühl hatte sich auch auf Maria Pöpke übertragen: "Ich habe meinen Mann ja auf mancher Reise begleitet. Wenn dann im Sturm alles an Bord durch die Gegend flog, habe ich gelacht." Aber natürlich nicht deshalb habe sie vor der 62. Reise der "München" nach Savannah gedacht: "Wie gerne würde auch ich mitfahren." Zusammen mit ihrem Mann auf "Weihnachtsreise" in die USA. Nur vier Wochen würde der Törn dauern; für Seeleute ein Klacks. Doch die damals 24-jährige Frau war schwanger. Aus versicherungstechnischen Gründen durfte sie daher nur auf dem Küstenstück von Rotterdam bis Bremerhaven mitfahren. Als in Rotterdam auch Ursula Mewes an Bord kam, die ihren Mann, den 2. Ingenieur Dieter Mewes, über den Atlantik begleiten würde, "da steht man dann da", erinnert sich Maria Pöpke, "und ist neidisch". Damals konnte sie nicht ahnen, dass sie im Dezember 2003 zu sich sagen würde: "Du hast 25 Lebensjahre geschenkt bekommen."

Am Nikolausabend 1978 ging sie in Bremerhaven von Bord. Zum Abschied überreichte ihr Reinhard Pöpke Weihnachtsgeschenke und einen Brief. Er bat seine schwangere Frau, ihn erst am Heiligabend zu öffnen. Auch für seinen siebenjährigen Sohn Jan, ein Kind aus der Ehe mit seiner tödlich verunglückten ersten Frau, waren Päckchen dabei.

Heiligabend öffnete Maria Pöpke den Brief ihres Mannes und sein Geschenk: Es war ein von ihm gebastelter Serviettenhalter. Für sie und den kleinen Jan war es kein Weihnachtsfest. "Es war entsetzlich." Jan, heute 32 Jahre alt und in der Computerbranche tätig, erinnert sich noch gut an seinen Vater. Alles, was er an Material zu der Tragödie der "München" zusammentragen konnte, hat Jan Pöpke sorgsam archiviert. "Er hat das sehr zurückgezogen gemacht. Ich wusste lange nicht, dass er sich damit auseinander setzt", so seine Mutter.

Nachdem im März 1979 ihr leiblicher Sohn zur Welt kam, taufte sie ihn am 21. April, dem Geburtstag ihres Mannes, auf den Namen "Jörn". Der heute 24-Jährige, der Forstwirtschaft studiert, setzt sich mit dem Seemannstod seines Vaters, den er nie kennen lernte, offener auseinander.

Fotos und Mitbringsel von dessen Reisen zieren eine Wand in seinem Zimmer. Er stöberte Videokassetten von seinen Reisen auf. "Schade, dass keine Stimme von ihm auf den Filmen ist", sagt er. Manchmal muss er an eine Begebenheit zurückdenken: "Als ich als kleiner Junge einmal mit einem Freund spielte und dessen Vater von der Arbeit durch die Gartentür trat, sagte der Junge arglos: Dein Papa kommt ja auch gleich nach Hause."

Gedanken darüber, was sich in den letzten Minuten an Bord der "München" abgespielt haben könnte, lässt Maria Pöpke bis heute nicht an sich heran. Weniger aus Schutz vor schrecklichen Bildern als aus Überzeugung. Sie sagt: "Mein Mann hat mir einmal erklärt, dass in einer noch so dramatischen Gefahr keiner an Bord an Untergang denken würde. Jeder habe so viel zu tun, dass dafür gar keine Zeit bliebe." Dennoch: "Es sind zu viele Fragen offen geblieben. Deshalb kann ich mit dem Tod von Reinhard bis heute nicht abschließen."

Weil sie ihren Mann immer wieder in ihrem Haus vor Augen sah, begann die junge Witwe bald, die Einrichtung zu verändern. Heute stehen auf dem Wohnzimmerschrank Bilder ihres Mannes. "Fotos genügen mir, ich brauche keinen Gedenkstein." Wie sie möchten auch ihre zwei Jungen nicht zum Seemannsgrab im Nordatlantik hinausfahren. "Mit letzter Sicherheit kennt man die Unglücksstelle doch nicht", sagt Jan. Auch Maria Pöpke trägt die Erinnerung lieber im Herzen. Manchmal tröstet ein Satz, den ihr auf See gebliebener Mann einmal gesagt hat: "Alles, was geschieht, hat seinen Sinn."