Explosion im All: Mobilfunk, Navigation, Stromversorgung: So verwundbar ist der moderne Mensch durch Sonnenstürme, wie sie derzeit toben.

Hamburg. Es geschah am 1. September 1859. Innerhalb weniger Stunden brachen auf der ganzen Welt die damals noch neuen Telegraphennetze zusammen. Kurzschlüsse führten zu Bränden in Telegraphenstationen. Nahezu alle Verbindungen waren unterbrochen. Nachts loderten Nordlichter am Himmel über Rom und Hawaii. Was war geschehen? Ein gewaltiger Sonnensturm hatte die Erde getroffen. Und noch heute staunen die Sonnenforscher über die Gewalt des damaligen Ereignisses. Es ist bis heute der stärkste Sonnensturm, der seit Beginn der wissenschaftlichen Aufzeichnungen über die Erde hereingebrochen ist. Die "Mutter aller Sonnenstürme" - so der Forscherjargon - traf auf eine Menschheit, die erst am Beginn der technischen Entwicklung stand. Gerade einmal 15 Jahre alt war die Technik der Telegraphie, und schon zeigte sich ihre Verwundbarkeit. Würde ein so gewaltiger Sturm heute auf die Erde treffen, die Folgen wären vermutlich weitaus dramatischer als vor 144 Jahren. Globalisierung und technischer Fortschritt haben die Menschheit verwundbarer denn je gegen die Launen der Sonne gemacht. Nicht nur Stromnetze und Flugverkehr könnten lahm gelegt werden. Auch Mobilfunksysteme und der über Satelliten laufende interkontinentale Telefonverkehr könnten zusammenbrechen und so das wirtschaftliche Leben lähmen; die Verluste würden sich rasch auf Milliardenhöhe summieren. Störungen des satellitengesteuerten Navigationssystems GPS würden Segler und Frachtkapitäne auf den Weltmeeren orientierungslos machen. Unter dem Bombardement der solaren Teilchenströme könnte sich sogar die Erdatmosphäre ausdehnen und so Satelliten durch die verstärkte Luftreibung zum Absturz bringen. In den letzten Tagen gaben die Sonnenforscher gleich mehrfach Großalarm. Auf der Oberfläche unseres Zentralgestirns waren unerwartet mehrere riesige Sonnenflecken aufgetaucht - so groß, dass sie bei Sonnenauf- und -untergang sogar mit bloßem Auge zu erkennen waren. Die pechschwarz wirkenden Sonnenflecken sind Regionen, in denen starke Magnetfelder das Aufsteigen heißer Materie aus dem Inneren der Sonne verhindern. Dadurch kühlen diese Gebiete um rund 1500 Grad ab und erscheinen im Kontrast zu ihrer 5800 Grad heißen Umgebung dunkel. Die starken Magnetfelder der Sonnenflecken reichen weit ins All hinaus und bilden oftmals verwickelte Strukturen. Wenn diese Magnetknäuel sich auflösen, werden immense Energien frei; es kommt zu gewaltigen Explosionen, die große Mengen an elektrisch geladener Materie aus der heißen Sonnenkorona mit horrendem Tempo ins All hinauskatapultieren. In der vergangenen Woche hatten Sonnenforscher mehrfach solche Explosionen und "koronalen Massenauswürfe" beobachtet. Am Dienstag wurde sogar der bislang drittgrößte Strahlungsausbruch auf der Sonne verzeichnet. Trotzdem blieben Katastrophen diesmal zum Glück aus. Zwar waren in den vergangenen Nächten Nordlichter bis hinunter zum Bodensee sichtbar. Die gemeldeten Störungen des Funkverkehrs und anderer technischer Einrichtungen waren jedoch minimal. Im Gegensatz zu 1859 brechen Sonnenstürme heute nicht mehr unerwartet über die Menschheit herein. Als Vorposten im All dient den Forschern das Sonnenobservatorium Soho, das 1,5 Millionen Kilometer in Richtung Sonne von der Erde entfernt platziert ist. Zwischen ein und drei Tagen beträgt zumeist die Vorwarnzeit, wenn Soho eine Explosion auf der Sonne meldet, je nach Geschwindigkeit der herausgeschleuderten Gase. So konnten sich Fluglinien und Elektrizitätsunternehmen vorsorglich auf den Ernstfall vorbereiten. "Wir haben angeordnet, dass die Piloten ihre vorgesehenen Routen nicht verlassen", erläutert Louis Garneau von der kanadischen Flugsicherung, "denn die Sonneneruptionen führen zu Störungen des Funkverkehrs." So wolle man sichergehen, auch bei solchen Störungen stets genau zu wissen, wo sich welches Flugzeug befindet. Viele US-Stromversorger fuhren ihre Netze vorsichtshalber mit geringerer Leistung. Denn die von den Sonnenstürmen ausgelösten Schwankungen des irdischen Magnetfeldes können Ströme in die Leitungen induzieren und so zu Überlastungen und Kurzschlüssen führen. So kollabierte am 13. März 1989 nach einer ganzen Serie von Ausbrüchen auf der Sonne die Stromversorgung in der gesamten kanadischen Provinz Quebec; sechs Millionen Menschen saßen neun Stunden lang im Dunkeln. Der entstandene Schaden betrug mehrere Hundert Millionen Dollar. Wie stark die Auswirkungen eines Sonnensturms wirklich sind, wissen die Forscher aber auch heute erst dann, wenn die von der Sonne heranrasenden elektrisch geladenen Teilchen auf das irdische Magnetfeld stoßen. Eine ganze Schar von Satelliten ist im All postiert, um die Magnetfeldänderungen zu messen. Doch dann bleiben nur noch 30 Minuten, bis der Sonnensturm die Erde erreicht. Entscheidend für dessen Wucht ist, in welche Richtung das vom Sonnensturm mittransportierte Magnetfeld weist. Nur wenn es dem Erdmagnetfeld genau entgegengerichtet ist, bricht dieses unter dem Ansturm zusammen, und die geladenen Teilchen können ungehindert in die Erdatmosphäre eindringen. Genau das war 1859 passiert. "Alles passte damals zusammen - es war der perfekte Sonnensturm", sagt Bruce Tsurutani, Wissenschaftler bei der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA. Zunächst kam es zu einer ungewöhnlich starken Explosion auf der Sonne. Die dabei herausgeschleuderten Gase rasten mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit auf die Erde zu - gerade einmal 17 Stunden und 40 Minuten brauchten sie, um die 150 Millionen Kilometer lange Strecke zu überwinden. Und das starke Magnetfeld des Sonnensturms war dem irdischen direkt entgegengesetzt. "Kann ein solcher Sonnensturm wie 1859 wieder auftreten?", fragt Tsurutani und liefert gleich die Antwort: "Ja, jederzeit, und er könnte sogar noch stärker sein. Wir wissen nur nicht wann!"