Hamburg. Mit 27 Jahren wird bei Johann Reinhardt ein bösartiger Tumor diagnostiziert. Der Hamburger rennt seinem Schicksal einfach davon.

Die Zeit ist mäßig. Vier Stunden, 16 Minuten und 35 Sekunden benötigt Johann Reinhardt am 16. Oktober vergangenen Jahres, um die 42,195 Kilometer durch Amsterdam zu bewältigen. Allenfalls solide für einen gut trainierten Spätzwanziger, vor allem wenn dessen Marathon-Bestzeit bei 3:33 Stunden liegt. Der 54 Jahre alte Dr. Andreas Hermes läuft nur zweieinhalb Minuten später ins Ziel in der niederländischen Hauptstadt ein.

Reinhardt ist mächtig stolz, den fast doppelt so alten Facharzt für Innere Medizin an der LungenClinic Großhansdorf besiegt zu haben. Was auf den ersten Blick lächerlich wirkt, ist auf den zweiten schwer beeindruckend. Denn der heute 29-Jährige ist an einer aggressiven Form von Lungenkrebs erkrankt. Dennoch gelingt es dem Hamburger bislang, seinem Schicksal davonzulaufen. Im Wortsinn. Am Sonntag ein weiteres Mal, wenn Reinhardt beim Halbmarathon in Hamburg über 21,1 Kilometer antritt.

Wegen einer Medikamentenumstellung läuft Reinhardt nur den Halbmarathon

„Auf eine Medikamentenumstellung im Januar hat mein Körper nicht so gut reagiert. Seitdem sind die Blutwerte etwas schlechter, und der Puls schlägt schneller als gewöhnlich. Daher muss der komplette Marathon in Hamburg ein Jahr warten“, sagt Reinhardt am Mittwoch, als er sich vom Trainingslager auf Mallorca meldet. Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: ein Vorbereitungscamp unter der spanischen Sonne für eine Breitensportveranstaltung, dazu als schwer kranker Patient.

Es klingt alles so absurd – und ist für Reinhardt doch so logisch. Die Diagnose habe ihm „eine zweite Chance geschenkt. Ich lerne das Leben neu kennen“, sagt er. Der Tumor wird sich – nach derzeitigem Stand der Medizin – nicht besiegen lassen, lediglich in seinem Wachstum verlangsamen.

Die Lebenserwartung von Krebspatienten konnte massiv verlängert werden

Diejenigen, die ihr Möglichstes dafür tun, sitzen in einem lichtdurchfluteten Büro in der LungenClinic Großhansdorf. Mit Wasserfarben gemalte Kinderbilder hängen an der Wand, die Stimmung wirkt locker, beinahe gelöst. In der Onkologie ist es besonders wichtig, das Schicksal der Patienten nicht zu sehr an sich heranzulassen, eine professionelle Distanz zu wahren. „Das kann nicht jeder, wir sprechen viel im Team, um uns gegenseitig Kraft zu spenden“, sagt Dr. Marlitt Horn.

Die Oberärztin hat sich sehr bewusst für ihre Fachrichtung entschieden, „weil wir noch einiges für die Erkrankten tun können. Gerade in der vergangenen Dekade hat sich viel entwickelt, um die Lebenserwartung zu verlängern. Inzwischen begleiten wir die Patienten mitunter über Jahre, bauen richtige Beziehungen zu ihnen auf.“ Früher ging es beim Lungenkrebs lediglich noch um Wochen, bestenfalls Monate, ergänzt Hermes.

Die Erkrankung ist Johann Reinhardt nicht anzusehen

Für Reinhardt geht es um mehr. Um Lebensqualität, um Lust, ums Laufen. „Er ist ein Vorzeigepatient“, betont Horn, ehe sie einen Satz formuliert, der schwer wie Blei wiegt und in der Luft ihres Arbeitszimmers zu stehen scheint: „Seine Therapie allerdings ist palliativ.“

Die todbringende Erkrankung steht Reinhardt nicht ins Gesicht geschrieben. Nach dem Aufstieg in die vierte Etage der Abendblatt-Redaktion ist er zwar etwas blass, die Lippen gebläut. Verantwortlich dafür ist jedoch primär der Temperaturunterschied zu den gut fünf Grad Celsius außerhalb des Gebäudes, die hochfrequente Atmung der Nervosität vor dem Interview geschuldet.

Die erste Diagnose führte in in die Irre: Es war keine Allergie

„Im Alltag merke ich gar nichts“, sagt Reinhardt. Eine der Tücken des Lungenkrebses, der sich in gut zwei Drittel der Fälle erst nach Metastasierung bemerkbar macht, da die Lungenzellen selbst kein Schmerzempfinden besitzen.

An den 11. August 2021, einen Mittwoch, kann sich der Sportfreak – exakter lässt sich Reinhardt nicht beschreiben – noch sehr detailliert erinnern. So, wie er sich an so ziemlich alles extrem genau zu erinnern scheint. Auf dem Rückweg vom Hals-Nasen-Ohrenarzt in Erfurt kam Reinhardt, der aus Nordhausen in Thüringen stammt, die Diagnose „Allergie“ dann doch etwas seltsam vor.

Erschütternder Befund für Marathonläufer: Lungenkrebs mit Metastasen

„Ich konnte in den Wochen zuvor nicht mehr so tief atmen, bei ungefähr 85 bis 90 Prozent Auslastung hat meine Lunge Stopp gemacht. Es war einfach untypisch und hat sich nicht nach einer Allergie angefühlt“, sagt Reinhardt, der damals in den Vorbereitungen auf den 73,9 Kilometer langen Supermarathon über den Rennsteig im Thüringer Wald steckte.

Zurück in Hamburg, wo er ehrenamtlich Pressesprecher des Hamburger Boxverbands ist, besucht er einen Lungenfacharzt, wird nach der Computertomografie direkt in die Großhansdorfer Klinik überwiesen. Eine Woche an Untersuchungen bei Hermes vergehen, ehe der erschütternde Befund feststeht: Lungenkrebs mit Metastasen in der Leber sowie an der Wirbelsäule.

Nur in Ausnahmefällen wird Lungenkrebs nicht durchs Rauchen ausgelöst

Gut 90 Prozent aller Bronchialkarzinome, eine der letalsten Krebsformen, sind auf das Rauchen zurückzuführen. Die Anzahl der Zigaretten, die Reinhardt in seinem Leben geraucht hat: null. „Er ist von einer selteneren Form von Lungenkrebs betroffen, die vermehrt bei Nichtrauchern unter 50 Jahren auftritt. Auslöser sind häufig genetische Mutationen“, sagt Horn.

Eine breite Genanalyse bringt Aufschluss darüber, welche Mutation vorliegt, eine sogenannte LK-Translokation. „Das gleicht einem geknackten Jackpot, da wir somit eine zielgerichtete Tablettentherapie, die für den Körper extrem elegant ist, durchführen können“, sagt Horn. Kein Vergleich zur Chemotherapie, bei der an sportliche Aktivitäten, ganz zu schweigen von einem Marathon, kaum zu denken ist.

Der Tumor entwickelt Resistenzen gegen die Medikamente

Bisher schlägt die Behandlung bei Reinhardt gut an. „Als Sportler bringt er Super-Voraussetzungen mit“, sagt Hermes, der als passionierter Dauerläufer (Bestzeit: 3:58 Stunden) – der Marathon in Hamburg wird sein elfter sein – weiß, wovon er spricht. Das Problem: Der Krebs entwickelt regelmäßig Resistenzen gegen die verabreichte Medikation.

Wann, kann niemand exakt bestimmen. Umso wichtiger ist eine regelmäßige Kontrolle, um gegebenenfalls die Behandlung anzupassen. So geschehen im Januar, nachdem der Tumor in geringem Ausmaß gewachsen war.

Eine Prognose über die Lebenserwartung von Reinhardt lässt sich nicht treffen

„Er hat eine gute Prognose, durch die moderne Therapie können wir deutlich mehr und hochwertigere Zeit herausschlagen als früher, als es nur eine Chemotherapie gegen den Lungenkrebs gab, durch die vielleicht noch ein halbes Jahr errungen wurde“, sagt Horn. Eine konkrete Zeitspanne lasse sich nicht seriös angeben. Bei einigen Patienten seien es zwei Jahre gewonnener Lebenszeit, bei anderen mehr. Reinhardt rechnet in optimistischeren Dimensionen.

„Vor zehn Jahren hätte man nichts für mich machen können, wer weiß also, welcher Fortschritt in zehn Jahren erreicht sein wird, der mir helfen kann. Diese Hoffnung habe ich schon. Die nächsten Jahre lassen sich für mich erst einmal gut absehen, solange werde ich alles tun, um meinen Körper zu stärken“, sagt er. Letztlich sei es ohnehin wenig sinnstiftend, sich auf Statistiken und Zeitachsen zu konzentrieren. „Wenn ich nur nach der verbleibenden Zeit leben würde, müsste ich das alles nicht mehr auf mich nehmen. Ich habe so viele andere Aufgaben, so viel Besseres zu tun."

Wenn der Hamburg-Marathon keine Option ist, dann die in Stockholm und Bremen

Reinhardt wirkt tiefenentspannt, erzählt von seinem Schicksal, als sei es das Normalste der Welt. Niemand weiß, welche inneren Stürme wirklich in ihm toben. Doch der Fan des SV Werder Bremen bringt es glaubhaft herüber, wenn er behauptet, einen kühlen Kopf zu bewahren, im Alltag fast nie an die Krankheit zu denken.

In Hamburg auf den kompletten Marathon verzichten zu müssen, sieht er positiv. „Vielleicht ganz gut, die Grundlagenausdauer jetzt aufzubauen, dann könnten der Stockholm-Marathon Anfang Juni oder der in Bremen im Oktober Optionen werden“, sagt Reinhardt.

Trotz Lungenkrebs ist regelmäßiges Lauftraining möglich

Aber wie ist es überhaupt möglich, trotz Lungenkrebs derartige Leistungen zu vollbringen? „Der Patient hat momentan nur geringfügige körperliche Einschränkungen, vor allem die Regenerationszeiten sind länger, muskuläre Schwierigkeiten treten auf. Auf Dauer wird sich das vermutlich verschlechtern. Sehr wichtig ist aber auch, dass er schmerzfrei ist“, sagt Hermes, den Reinhardt – obwohl die Laufpartner aus Distanzgründen beim Sie bleiben – liebevoll „Doc Hermes“ nennt. „Ich merke nicht unbedingt so sehr, dass mir die Luft wegbleibt.

Eher die Gesamtbelastung setzt mir ab einem gewissen Punkt zu, die Muskeln fühlen sich schwerer an“, sagt Reinhardt und fügt trotzig an: „Aber ich weiß, dass ich nicht chancenlos bin und lasse mir von einer Krankheit nicht vorschreiben, welche Höchstleistungen ich vollbringen kann.“ Seine Bestzeit, oder zumindest wieder deutlich unter vier Stunden zu bleiben, hat er nach wie vor als Ziel. Drei- bis viermal in der Woche ist Training angesetzt.

Wenn Reinhardt nicht laufen darf, fährt er mit dem Rennrad von Hamburg nach München

Seine Ärzte unterstützen die Begeisterung ihres Patienten – mit kleinen Einschränkungen. „Ihn auszubremsen wäre körperlich wie mental absolut kontraproduktiv, weil Herr Reinhardt viel über den Sport kompensiert. Ab und an müssen wir ihn jedoch einfangen, damit er seinen Körper nicht überlastet“, sagt Horn, schmunzelt Hermes zu und erzählt vom letzten Mal, als Reinhardt eine Laufpause verordnet wurde.

„Die Folge war, dass wir tags darauf eine Mail mit Fotos von ihm auf dem Rennrad bekommen haben. Er ist dann spontan in vier Tagen von Hamburg nach München gefahren“, sagt die 42-Jährige und fügt nach kurzer Pause an. „Es ist alles in Ordnung so. Er lebt von Lauf zu Lauf, das gibt ihm ganz viel.“ Wieder so ein Satz, der schwebt und doch zugleich so viel Schwermut in sich trägt.

Johann Reinhardt möchte anderen Krebspatienten Hoffnung spenden

Reinhardt scheint dagegen ausschließlich zu schweben. Er lässt sich nicht unterkriegen, arbeitet nach wie vor in Vollzeit als Leiter der Stabsstelle „Klimaschutz, Mobilität und Fördermittelmanagement“ der Stadt Winsen (Luhe). Seine Erfahrungen möchte der Thüringer, der für den Nordhäuser Triathlonverein startet und auch die Pressearbeit des Triathlon-Bundesligisten Weimarer Ingenieure verantwortet, in einem Mentorenprogramm des Universitätsklinikums Eppendorf weitergeben.

„Viele, vor allem jüngere Menschen dürfen sich Hoffnung machen, ihren Krebs zu kontrollieren. Es gibt mittlerweile gut erprobte Therapiemöglichkeiten. Niemand sollte seinen Lebensmut und die Freude daran verlieren. Man kann durch die Krankheit sogar etwas dazugewinnen. Das möchte ich anderen gern mitgeben“, sagt er.

CDU-Politiker Mike Mohring unterstützte Reinhardt nach der Diagnose

Ihm selbst halfen kurz nach der Diagnose Gespräche mit Mike Mohring (51). Der CDU-Politiker war 2018 ebenfalls an Krebs erkrankt, trat ein halbes Jahr später dennoch als Spitzenkandidat seiner Partei bei der Landtagswahl in Thüringen an. Inzwischen gilt er als genesen.

Wenngleich Reinhardt weiß, dass die eigene Genesung unwahrscheinlich ist, genießt er nicht nur sein Leben, er kämpft auch darum. Seine Ernährung hat er auf Empfehlung des Schweinfurter Experten Dr. Rainer Klement, der den Ironman in Hamburg 2018 in 9:13 Stunden absolvierte, auf eine möglichst kohlenhydratarme umgestellt, geht mehrmals wöchentlich zum Eisbaden in den Öjendorfer See.

Weltklasse-Triathlet behandelt an Lungenkrebs erkrankten Marathonläufer

Dazu konsultiert Reinhardt auch regelmäßig die Jenaer Onkologie-Koryphäe Prof. Andreas Hochhaus, ist in hausärztlicher Behandlung bei Dr. Ulrich Konschak, einem – natürlich – Ausdauersportler, der 2016 Vizeweltmeister seiner Altersklasse beim Ironman auf Hawaii wurde.

„Ich habe eben noch viel vor“, begründet Reinhardt nachvollziehbar. Vergangenes Jahr unternahm er 16 Reisen in neun Länder, die sieben Weltwunder möchte er noch sehen und vor allem: am Sonntag in weniger als zwei Stunden einen Halbmarathon durch seine Wahlheimat absolvieren.

Privatduell zwischen Patient und Arzt ist noch nicht beendet

Das letzte Wort im Privatduell zwischen Reinhardt und Hermes ist allerdings noch nicht gesprochen – und daher gebührt es auch dem Mediziner. „Ich möchte noch einmal klarstellen, dass ich während des Marathons in Amsterdam erste Hilfe geleistet habe und nur deshalb später ins Ziel gekommen bin“, sagt Hermes grinsend. Fortsetzung folgt. „Fortsetzungen“, korrigiert Reinhardt.