Hamburg. Die Hamburger Sportlotsin zieht ein halbes Jahr nach der Sportgala und dem Gewinn des Active-City-Awards eine Bilanz ihrer Arbeit.

Als Linda Bull vor viereinhalb Jahren anfing, mit der Evangelischen Stiftung Alsterdorf als Sportlotsin die rund 130.000 in Hamburg lebenden Menschen mit Behinderung mit Vereinen und Verbänden in Kontakt zu bringen, da hätte kaum jemand einordnen können, was sich hinter dem Berufsbild Sportlotsin verbirgt. Das hat sich seit dem 25. April nachhaltig geändert, als die 31 Jahre alte Rellingerin stellvertretend für ihr Team auf der Hamburger Sportgala den Active-City-Award entgegennehmen durfte. Sechs Monate danach zieht sie Bilanz.

Hamburger Abendblatt: Frau Bull, die Auszeichnung auf der Sportgala hat Ihre Arbeit zumindest für 15 Minuten ins Rampenlicht gerückt. Ist so eine Auszeichnung nur ein Strohfeuer oder ein nachhaltiges Erlebnis?

Linda Bull: Es kommt ganz darauf an, was man selbst daraus macht. Für uns war es absolut nachhaltig. Ich habe erst in den Tagen nach der Preisverleihung gemerkt, was für eine große Sache das war. Auf der Bühne habe ich mich natürlich riesig gefreut, aber zu spüren, wie viele Menschen danach aktiv auf uns zugekommen sind, das war überwältigend. Vorrangig kommt uns das Renommee des Preises zugute. Wenn die eigene Arbeit von solch gewichtigen Initiatoren ausgezeichnet wird, ist das in Gesprächen mit potenziellen Geldgebern sehr förderlich. Aber um es nachhaltig zu machen, muss man die Kontakte auch aktiv pflegen.

Können Sie konkret benennen, was sich an neuen Kontakten ergeben hat?

Bull: Wir haben mit dem Hamburger Fußball-Verband ein paar Projekte ins Auge gefasst. Die Verbindung zur Active City, die auch davor schon gut war, hat sich deutlich intensiviert. Und auch mit der Stiftung Leistungssport sind wir im Gespräch, um zu versuchen, die Kontakte zwischen den Hamburger Topathletinnen und -athleten und Menschen mit Behinderung auszubauen. Das sind wichtige Fortschritte für uns.

Als Sie 2018 mit Ihrer Arbeit begannen, sagten Sie, dass sich sehr viele Menschen nicht vorstellen können, dass Mitmenschen mit Behinderung überhaupt Sport treiben. Wie ist der Status quo Ihres Wirkens?

Bull: Es gibt noch immer Menschen, die sich das nicht vorstellen können, da haben wir weiter enormen Aufklärungsbedarf. Aber es ist schon viel besser geworden. Vor allem fühlen wir uns mit unseren Anliegen längst nicht mehr so allein gelassen wie noch zu Beginn. Es hat sich in den vergangenen Jahren viel getan, es sind viele neue Projekte entstanden, wir haben mehr Ansprechpartner in den für uns wichtigen Institutionen. Es sind noch nicht genug, aber Hamburg hat im inklusiven Sport einen guten Sprung gemacht seit Anfang 2018.

Haben Sie einen Überblick darüber, wie die Stadt im Bundesvergleich dasteht?

Bull: Das ist etwas, womit wir uns gern intensiver beschäftigen würden, aber nicht die Ressourcen dafür haben. Ich sehe Hamburg bundesweit auf einem guten Mittelfeldplatz. Andere Standorte haben uns etwas voraus, aber wir sind auf einem guten Weg. Vor allem hilft uns, dass wir mit dem Konzept der Active City ein Programm haben, das den Sport ganzheitlich betrachtet und auch das Thema Inklusion deutlich in den Fokus gerückt hat.

Dennoch ist es kein Geheimnis, dass Sie um die Finanzierung all Ihrer Projekte hart kämpfen müssen. Im Wesentlichen ist der Bereich Sport und Inklusion spendenfinanziert. Ist es auch nach viereinhalb Jahren noch ein Leben von der Hand in den Mund?

Bull: Leider ja. Wir haben zwar bereits finanzielle Unterstützer, sind aber immer noch auf der Suche nach einem Hauptsponsor. Für Sportkurse gibt es zwar heutzutage deutlich mehr Informationsmaterial zu Fördermöglichkeiten, auch der Hamburger Sportbund ist mittlerweile viel besser aufgestellt, was das Thema Inklusion an-geht. Aber die Finanzierung bleibt unser größtes Problemfeld.

Was müsste passieren, damit sich dieses Problemfeld auflöst?

Bull: Wären wir im Wunschkonzert, dann bräuchten wir für Verlässlichkeit in unserer Arbeit eine langfristige Regelfinanzierung. Wenn ich realistisch denke, dann wäre eine ausreichende Finanzierung über zumindest fünf bis zehn Jahre schön. Dann könnten wir viel mehr Arbeitszeit in die Projekte investieren, anstatt andauernd um Gelder werben zu müssen.

Was wäre eine ausreichenden Finanzierung?

Bull: Eine Million Euro für einen Zeitraum von drei Jahren. Aber das soll bitte niemanden abschrecken, wir freuen uns über jede andere Summe.

Was hat denn ein Unternehmen oder ein privater Gönner für einen Benefit aus der Unterstützung Ihrer Arbeit?

Bull: In erster Linie ist es ein sozialer Benefit. In vielen Gesprächen hören wir, dass Unternehmen für ihre Mitarbeitenden etwas Besonderes schaffen wollen, indem sie Inklusionsprojekte unterstützen. Einen anderen Blickwinkel gewinnen, eine neue Motivation entfachen. Als unser Unterstützer trägt man bei zur Fortentwicklung unserer Gesellschaft.

Erleben Sie oft, dass die Berührungsängste zwischen Menschen mit und ohne Behinderung noch immer groß sind? Oder, anders gefragt: Überfordert Inklusion unsere Gesellschaft bisweilen?

Bull: Leider ist das nicht von der Hand zu weisen. Auch deshalb betrachten wir Inklusion, anders als andere Institutionen, nicht zwingend als gemeinsame Aktivität von Menschen mit und ohne Behinderung. Inklusion bedeutet für uns Teilhabe, inklusiver Sport kann deshalb auch von einer Gruppe getrieben werden, zu der nur Menschen mit Behinderung zählen. Viele von denen trauen sich zunächst gar nicht, in gemischte Gruppen zu gehen. Aber auch die brauchen dringend Angebote.

Gibt es ein Projekt, das seit Ihrem Einstieg besonders gut funktioniert? Und auch eins, das gar nicht funktioniert hat?

Bull: Gar nicht? Nein, das gab und gibt es bislang nicht. Was sehr gut läuft, ist das in Kooperation mit Special Olympics Hamburg organisierte Projekt „Sei Aktiv!“, mit dem wir versuchen, Sport in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung so niedrigschwellig wie möglich anzubieten. Das ist enorm wichtig, weil vielen dieser Menschen gar nicht bewusst ist, dass sie überhaupt Sport treiben können und sollten. Denn gerade für Menschen mit Behinderung ist Bewegung wichtig. Das Projekt ist bis Ende 2023 finanziert. Wir schauen schon, wie wir es mit allen teilnehmenden Einrichtungen weiterführen können.

Die großen Krisen dieser Zeit werden auch an Ihnen nicht spurlos vorübergehen. Wie schlimm war Corona für Ihre Projekte, und was befürchten Sie an Folgen durch die Energiekrise?

Bull: Corona war anfangs furchtbar, denn es ist unheimlich schwierig, Menschen mit geistiger Behinderung klarzumachen, warum sie den Sport, für den wir sie mühsam begeistern konnten, nicht mehr ausüben dürfen. Die Lockdowns haben uns weit zurückgeworfen. Mittlerweile haben wir die Folgen zu großen Teilen überwunden. Was die Energiekrise angeht, traue ich mir noch keine Prognose zu. Natürlich bereiten mir die Entwicklungen Sorge. Aber andererseits sind wir es gewohnt, immer wieder vor Probleme gestellt zu werden und diese mit viel Kreativität und Durchhaltevermögen zu lösen.

Ketzerisch gesagt kann ein Arbeiten im permanenten Krisenmodus in Zeiten von Weltkrisen also von Vorteil sein.

Bull: Absolut! Das meiste, was wir anpacken, ist problembelastet. Deshalb sehen wir jede Krise als eine weitere Herausforderung, der wir uns stellen. Ich habe aber mittlerweile das schöne Gefühl, dass wir uns diesen nicht mehr allein stellen, sondern dass die meisten Vereine und Verbände das Thema Inklusion angehen wollen. Aber wir können alle nur das tun, was möglich ist.

Sehen Sie in Ihrer Arbeit eine Vorbildfunktion für die Gesellschaft?

Bull: Ich würde es eher so formulieren, dass wir unseren Beitrag dazu leisten wollen, unsere Gesellschaft besser zu machen. Alle, die zeigen, dass Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam etwas schaffen können, beweisen, dass es keine Barrieren geben muss. Es kommt auf jeden einzelnen Menschen an. Wir wollen, dass niemand unterschätzt wird. Gemeinsam können wir sehr vieles möglich machen.

Ihr Hauptaugenmerk liegt auf Menschen mit geistiger Behinderung, rund 30.000 davon leben in Hamburg. Im kommenden Jahr, vom 17. bis 25. Juni, finden in Berlin die Special Olympics World Games statt, eine Art Olympischer Spiele für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Was versprechen Sie sich davon?

Bull: Vor allem eine enorme Aufmerksamkeit für das Thema. Wir merken, dass sich schon jetzt einiges in ganz Deutschland bewegt. Hamburg ist in das „Host Town“-Programm eingebunden, wird eine der fast 200 internationalen Delegationen beherbergen. Dabei werden wir den Verband Special Olympics Hamburg als Stiftung unterstützen. Für uns ist es, als fänden die Olympischen Spiele in Deutschland statt, und darauf freuen wir alle uns schon jetzt riesig.

Was sind für Ihre Arbeit die wichtigsten Projekte im Jahr 2023?

Bull: Wir wollen vor allem das Thema Mobilität vorantreiben. Wie kommen Menschen mit Behinderung mit Sport in Kontakt, wie erhalten sie Informationen über Angebote und wie schaffen sie es dann, die Wege dorthin zurückzulegen? Das ist ein sehr komplexer Problembereich, in dem es nicht so weitergehen kann wie bislang. Eine Vollzeitstelle wäre nötig, um dort Strukturen zu schaffen. Darum kämpfen wir. Außerdem wollen wir mehr Fortbildungen für Mitarbeitende in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung anbieten, um auch dort die Hemmschwellen weiter abzubauen. Des Weiteren haben wir ein neues Projekt namens „Bewegtes Leben“, bei welchem wir ältere Menschen mit und ohne Behinderung in Bewegung und gleichzeitig unsere verschiedenen Zielgruppen zusammenbringen wollen.

Wenn sich nach der Lektüre Menschen für Ihre Arbeit interessieren, wo können sie mit Ihren Projekten in Berührung kommen?

Bull: Vom 4. bis 6. November veranstalten wir in Kooperation mit der Hochschule für Angewandte Wissenschaften am Berliner Tor einen Kongress für Sport, Bewegung und Gesundheit. Dafür kann man sich bis 1. November unter www.sport-alsterdorf.de/kongress anmelden. Und am 25. Januar organisieren wir wieder unser inklusives Digitales Sportfest, das im April 2021 erstmals stattfand und sich mittlerweile etabliert hat.

Mehr als das: Im Sommer haben Sie für diese Idee den Digital Social Award von Siemens gewonnen. Haben Sie im Büro mittlerweile einen Trophäenschrank?

Bull: Tatsächlich habe ich, nachdem wir im Sommer den zweiten Pokal gewonnen hatten, ein Regal freigeräumt, um dort die Trophäen zu lagern. Aber da ist noch sehr viel Platz, wir müssen und werden also weiter Gas geben.