Das olympische Dorf ist ein Zentrum interessanter Begegnungen. Etwa 200 deutsche Athleten sind während der Spiele hier untergebracht.

London. Jeden Morgen, wenn Lisa Vitting die Vorhänge vor ihrem Fenster im siebten Stock der Londoner Olympic Park Avenue öffnet, hat sie ihr Ziel schon vor Augen. Von Weitem schimmert ihr das weiße Dach des Aquatics Centre entgegen, dessen Form einem Schmetterling nachempfunden zu sein scheint. Darunter wird die Schwimmerin aus Mülheim an der Ruhr am morgigen Sonnabend mit der deutschen 4x100-Meter-Freistil-Staffel um eine Medaille kämpfen. "Das ist schon eine beeindruckende Aussicht", sagt Vitting und lässt den Blick über den hügeligen Olympic Park schweifen, der ihr zu Füßen liegt.

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In den nächsten zwei Wochen ist das etwa 70 Quadratmeter große Dreizimmerapartment mit der Nummer 22 ihr Zuhause. Insgesamt sechs Schwimmerinnen sind hier untergebracht, bis zu acht Athleten sind es in den anderen Wohnungen. "Es kommt mir ein bisschen vor wie eine Studenten-WG", sagt Vittings Staffelkollegin Daniela Schreiber. Es gibt eine gemeinsame Sitzecke, einen Fernseher, einen Kühlschrank, ein Badezimmer. An den Wänden der Zimmer hängen Bilder, die von Londoner Kunststudenten gestaltet worden sind. Auf den Bettdecken sind die Piktogramme aller olympischen Sportarten aufgedruckt. Die Veranda teilen sich die Schwimmerinnen mit sechs Volleyballern im anderen Gebäudeflügel. Die Klimaanlage fehlt noch, sie wird wohl noch eingebaut werden, bevor nach den Spielen die neun Eigentümer einziehen.

Etwa 200 deutsche Athleten haben bisher im olympischen Dorf am nordöstlichen Rand des Kerngeländes dieser Sommerspiele Quartier bezogen: Block 54, Gebäudeteil D und E. Nur die Segler, Ruderer und Kanuten haben wegen der großen Entfernung zur Wettkampfstätte Unterkünfte vor Ort gewählt. Die Leichtathleten, die erst in einer Woche ihre ersten Wettkämpfe bestreiten, kommen noch nach.

Wer das Glück hat, die streng bewachte Zone betreten zu dürfen und einen Blick auf das Geschehen hinter die hohen Sicherheitszäune zu erhaschen, dem eröffnet sich das wohl farbenfroheste Neubaugebiet der Welt. Kein Balkon, der nicht mit einer Landesfahne dekoriert wäre. Einige der insgesamt 205 teilnehmenden Nationen haben es dabei nicht belassen. Vor dem kanadischen Wohnkomplexes wird man von einem lebensgroßen roten Elch aus Holz empfangen. Die Australier haben drei Gummistrauße vor ihrem Eingang platziert. Und die Delegation der Seychellen wirbt mit einer kleinen Fotoausstellung an der Fassade um neue Touristen.

Auf den Straßen, die hier verheißungsvoll "Medal Way" oder "Celebration Avenue" heißen, ergeben sich interessante Begegnungen: Ein brasilianischer Boxer dreht keuchend seine Runden, zwei kleine ukrainische Geherinnen eilen vorbei. Zwei kanadische Hünen haben sich zu einer Partie Volleyball auf einer der vielen hübschen Grünanlagen getroffen, die hier die Häuserzeilen trennen und in denen es bisweilen bizarre Kunstwerke zu bestaunen gibt, ein kauernder Steingorilla zum Beispiel oder ein metallenes Skelett, das einen Salto über einen Bock macht. Viele lassen es sich im "The Globe" gut gehen, einem Freizeitzentrum, in dem man spielen, Musik hören oder auch einfach entspannen kann.

Mit etwas Glück trifft man einen Superstar. Sprinter Usain Bolt, die Williams-Schwestern oder ihren Tenniskollegen Novak Djokovic. Man kann sie gut daran erkennen, dass sie eine Traube von Neugierigen hinter sich herziehen, die ein Foto haben oder einmal mit ihnen aufs Foto wollen. "Die kommen in der Mensa gar nicht dazu, in Ruhe etwas zu essen", hat Vitting beobachtet. Dabei gebe es dort nur das Beste aus aller Welt, erstmals auch afrikanische und karibische Gerichte. Roger Federer zog es vor, dem Trubel auszuweichen und sich in Ruhe auf den zweiten Wimbledonsieg innerhalb eines Monats vorzubereiten. Auch die US-amerikanischen Basketballer haben ein Hotel bezogen - offenbar auf Druck der Profiliga NBA, die horrende Versicherungsprämien geltend gemacht haben soll.

Die allermeisten aber können hier störungsfrei den olympischen Alltag leben. Im Erdgeschoss jedes Wohnkomplexes ist eine Waschstube untergebracht. Wer seine Sachen vor 10 Uhr bringt, bekommt sie bis 18 Uhr sauber zurück. Gegenüber stehen Fahrräder für die kürzeren Wege zur Verfügung - theoretisch jedenfalls, denn an diesem Donnerstagnachmittag sind sie alle schon unterwegs.

Im ersten Stock haben die Deutschen ihr Mannschaftsbüro eingerichtet. Für jede Sportart gibt es dort einen gelben Karton, in dem gedruckte Informationen abgelegt werden. Zum Beispiel, welche Kleidung zu welchem Anlass anzuziehen ist. Gestern Nachmittag etwa stand das offizielle "Team-Welcome" für die Deutschen auf dem Programm. Zwei Türen weiter ist eine provisorische Praxis eingerichtet. Drei Physiotherapeuten und drei schwarz-rot-goldene Liegen stehen den Athleten rund um die Uhr zur Verfügung. Draußen bieten Stände kostenlos Obst, Müsli und Getränke. Darüber hinaus gibt es einen Supermarkt, ein Kino, Internetcafes, eine Bank, ein Fitnesscenter, sogar ein Krankenhaus.

Vieles von der Infrastruktur wird die Spiele und die Paralympics überdauern. Die 17 000 Unterkünfte werden zu 2818 Wohnungen umgebaut, von denen knapp die Hälfte sozial gefördert sind. Statt Olympic wird es dann East Village heißen.