Die Handballer des HSV Hamburg beklagen nach dem Punktverlust bei Neuhausen ihre Überlastung und einen neuen Verletzten.

Hamburg. Am Morgen danach wechselte Markus Gaugisch wieder seine Rolle. Zwei Unterrichtsstunden Deutsch standen gestern auf seinem Lehrplan für die fünfte und sechste Klasse am Dußlinger Karl-von-Frisch-Gymnasium. Am Vorabend hatte Gaugisch, 38, noch den Handballlehrer gegeben, und er hatte in dieser Funktion seine wohl größte Stunde erlebt. In letzter Sekunde hatte der von ihm trainierte Bundesliga-Aufsteiger TV 1893 Neuhausen dem großen HSV Hamburg mit 28:28 einen Punkt abgetrotzt.

Die Gegensätze waren an jenem Mittwochabend in Tübingen plötzlich völlig aufgehoben: hier der Aufsteiger aus einem 4000-Einwohner-Ortsteil, dort der Champions-League-Klub aus der Millionenstadt; weniger als eine Million Euro Etat gegen mehr als acht Millionen; eine Mannschaft namenloser schwäbischer Studenten gegen eine von hoch bezahlten, mit vielen Medaillen dekorierten Vollprofis aus aller Welt. Es war der Stoff, aus dem Sensationen sind - oder Blamagen, je nach Sichtweise.

Martin Schwalb hätte sich vermutlich gewünscht, gestern wie sein Amtskollege in ein Paralleluniversum abtauchen zu können, in dem der Handball gar keinen Platz hat. Stattdessen stand für den Trainer der HSV-Handballer Regeneration im Fitnessklub Aspria auf dem Stundenplan, wie nach jedem Spiel. Es ist derzeit der wichtigste Trainingsinhalt beim letztjährigen Meister. Fünf Stammspieler konnte Schwalb aufgrund von Verletzungen gegen Neuhausen nicht einsetzen. Und nun fällt auch noch Blazenko Lackovic, eine der wenigen verbliebenen Rückraumkräfte, aus. Der Kroate brach sich den rechten Ringfinger.

"Es ist schon unfassbar, wie sehr wir gebeutelt sind", klagte Schwalb. Irgendwann, das sei ihm immer bewusst gewesen, würden die verbliebenen Spieler den Preis dafür zahlen, dass er sie dauerhaft überbelasten müsse, für den Reisestress und dafür, dass nach Olympia keine vernünftige Saisonvorbereitung, geschweige denn Erholung möglich war. Am Mittwoch sei der erwartete Einbruch eingetreten: "Der eine oder andere ist in diesem Spiel eingeknickt. Man darf nicht vergessen, dass sie auch nur Menschen sind." In Anbetracht der Umstände findet Schwalb die HSV-Serie von nun zehn Pflichtspielen ohne Niederlage sogar "sensationell. Die meisten anderen Mannschaften gewinnen ohne einen Linkshänder im Rückraum gar kein Spiel."

Gegen Neuhausen gelang das auch dem HSV nicht, was die Frage aufwirft, warum der Trainer nicht Stefan Terzic ins Spiel brachte, seinen einzigen gesunden Halbrechten. Aber gerade in der Notlage hielt Schwalb an seinem Prinzip fest: "Stefan ist mit seinen 18 Jahren einfach zu jung. Ich will ihm nicht die Karriere kaputt machen, indem ich ihn in einer ganz schwierigen Phase aufs Feld werfe."

Am Sonntag gegen Partizan Belgrad werde sich der Serbe beweisen dürfen. Kapitän Pascal Hens wiederum wäre zur Not einsetzbar gewesen - allerdings nur um den Preis, dass sich die Muskelverletzung im Fuß womöglich verschlimmert. "Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen", sagte Schwalb.

In den kommenden Tagen wird er die Gesundheit seiner Spieler noch oft genug aufs Spiel setzen müssen. Nicht unbedingt im Champions-League-Gruppenspiel gegen Belgrad, möglicherweise aber im Pokalwettbewerb am Dienstag beim Bergischen HC, erst recht in acht Tagen im Spitzenspiel gegen den THW Kiel. Nach dem letzten Eindruck ist völlig unklar, wie der Meister von 2011 seinen Nachfolger bezwingen soll, auch wenn Marcin Lijewski dann zurückerwartet wird. Schwalb hält es grundsätzlich für möglich - allerdings unter einer Bedingung: "Dafür müssen alle, die spielen können, einen guten Tag haben."

Die Kieler haben ihr Spiel beim TV Neuhausen vor gut zwei Wochen mit 39:20 gewonnen. "Damals hat sich das Gefühl, gegenhalten zu können, überhaupt nicht eingestellt", erinnert sich Gaugisch. Ohne die lehrreiche Erfahrung, dass es eben nicht genüge, gegen eine Spitzenmannschaft nur brav mitzuspielen, wäre der Coup gegen den HSV gar nicht möglich gewesen. Ein solcher war Gaugisch schon vor zehn Jahren gelungen, damals noch als Spieler des VfL Pfullingen (s. Tabelle).

Gestern aber mischte sich in seinen Trainerstolz auch Mitleid: "Die Belastung, die der HSV hat, ist unmenschlich, daran musst du einfach kaputtgehen." Er sei im Nachhinein froh, dass er als Spieler nie dieses Niveau erreicht habe. Sonst wäre es kaum möglich gewesen, nebenbei ein Studium als Gymnasiallehrer zu absolvieren.