Sportgespräch mit Alfred Gislason, dem Trainer des THW Kiel, vor dem Spitzenspiel am Sonntagabend gegen den Titelverteidiger HSV.

Hamburg/Kiel. Nach dem Derby ist für Alfred Gislason, 52, vor dem Derby. Am Mittwoch feierte der isländische Trainer mit dem THW Kiel einen 32:27-Erfolg beim alten Rivalen Flensburg-Handewitt. An diesem Sonntag nun will Gislason gegen den Titelverteidiger HSV Hamburg die beeindruckende Startserie von 15 Siegen ausbauen (17.30 Uhr/Sport1 live). Gelingt dies, sollte der 17. deutschen Meisterschaft des THW nichts mehr im Wege stehen.

Hamburger Abendblatt: Herr Gislason, herzlichen Glückwunsch ...

Alfred Gislason: Danke, danke!

... zur deutschen Meisterschaft.

Gislason: Moment, so weit ist es noch lange nicht. Sechs Minuspunkte auf den HSV sind ein schöner Vorsprung. Aber das kann sich so schnell ändern. Wenn ich an die EM im Januar denke, wird mir angst und bange. Viele unserer Spieler schaffen es bei der aktuellen Belastung von zwei Spielen pro Woche gerade so, trotz leichter Blessuren fit zu sein. Wenn sie dann mit der Nationalmannschaft zu einem Turnier fahren, kann es leicht passieren, dass zwei, drei von ihnen als Langzeitverletzte zurückkommen. Die Saison ist noch sehr lang.

Sie wollen dem HSV Mut machen?

Gislason: Der HSV erlebt in diesem Jahr leider, was wir im vergangenen erleben mussten. Ich finde das wirklich schade, denn der HSV hat 2010/11 eine Riesensaison gespielt, während wir Probleme hatten. Ich erwarte aber, dass am Sonntag der alte HSV wieder da ist.

Sind diese Häufungen von Verletzungen nur Zufall?

Gislason: Sicher nicht nur. Vergangene Saison fehlten uns Daniel Narcisse und Kim Andersson schon in der Vorbereitung. Mit jedem weiteren Ausfall wuchs die Belastung für die verbliebenen Spieler. Irgendwann waren es dann fünf Verletzte, und wir hatten keinen Linkshänder mehr im Rückraum. Ein spanischer Kollege hat mich kürzlich gefragt, wie wir die physische Belastung mit nur 15 Mann durchstehen würden. Ihm stehen 18 Spieler zur Verfügung.

Über die Rhein-Neckar Löwen haben Sie im Vorjahr gespottet, sie benötigten für ihren großen Kader einen Gelenkbus.

Gislason: Das wird mir in Mannheim immer noch übel genommen. Es geht mir auch nicht darum, mehr Spieler zu bekommen. Aber es ist eine Gratwanderung. Bisher haben wir Glück gehabt, nachdem wir in der vergangenen Saison viel leiden mussten.

30:0 Punkte - hätten Sie mit einem solchen Traumstart gerechnet?

Gislason: Wenn mir vor der Saison jemand gesagt hätte, dass wir ohne Minuspunkt ins Spiel gegen den HSV gehen, den hätte ich für verrückt erklärt. Wir haben einen guten Lauf, schon die Vorbereitung lief super. Das Selbstvertrauen wird natürlich mit jedem Erfolg größer. Und dann gewinnt man auch die engen Spiele. So war es auch am Mittwoch: Als die Flensburger Mitte der zweiten Halbzeit anfingen, Fehler zu machen, haben wir keine gemacht.

Der TBV Lemgo ist vor neun Jahren mit 34:0 Punkten gestartet. Wie lange kann Ihre Serie halten?

Gislason: Als die Serie damals in Magdeburg endete, war ich übrigens der Trainer auf der anderen Seite. Aber darauf spekuliere ich jetzt überhaupt nicht. Erst einmal würde ich mich sehr freuen, wenn wir am Sonntag bei 32:0 Punkten stünden. Ich erwarte allerdings eine Trotzreaktion des HSV nach der Niederlage in Lübbecke. Er kann jetzt sicher etwas befreiter aufspielen.

Wenn Sie gewinnen, droht die Meisterschaft langweilig zu werden. Gibt es außer dem HSV überhaupt noch Mannschaften, die Sie fürchten?

Gislason: Vom Kader her sind Hamburg und Kiel sicher die stärksten. Wobei Berlin nicht weit abfällt. Die sind Weltmeister im Untertreiben. Da sitzt ein schwedischer Rückraumnationalspieler 60 Minuten auf der Bank oder der Tribüne, weil im Kader kein Platz ist.

Die vergangenen zweieinhalb Jahre beim THW waren turbulent. Im Zuge der Manipulationsaffäre hat das Management mehrfach gewechselt, das ehemalige Führungstandem Manager Uwe Schwenker/Trainer Zvonimir Serdarusic muss sich derzeit vor Gericht verantworten. Kann die Mannschaft wirklich ausblenden, was um sie herum passiert?

Gislason: Nicht gänzlich. Ich glaube, man kann von Glück reden, dass wir jeden dritten Tag auf dem Spielfeld gefordert sind und sehr viel Zeit darauf verwenden, uns auf den jeweils nächsten Gegner vorzubereiten. Es gibt so viel zu tun, dass man sich damit gar nicht beschäftigen kann. Wir gehen alle davon aus, dass es bald zu Ende geht und sich alles zum Guten wendet.

Inwiefern haben sich Ihre Arbeitsbedingungen geändert?

Gislason: Gar nicht. Ich habe gut und gern für Uwe gearbeitet, wir sind ja befreundet. Aber ich muss sagen, dass Klaus Elwardt in den vergangenen Monaten als Geschäftsführer einen überragenden Job gemacht hat und völlig zu Unrecht Kritik einstecken musste. Unser Management ist sehr gut aufgestellt.

Können Sie sich vorstellen, dass Uwe Schwenker irgendwann wieder für den THW arbeiten wird?

Gislason: Ja, in welcher Funktion auch immer. Aber man muss natürlich abwarten, wie der Prozess ausgeht.

Sie haben vier deutsche Spieler im Kader, ein fünfter, der Gummersbacher Patrick Wiencek, soll 2012 hinzukommen. Hat beim THW ein Umdenken eingesetzt?

Gislason: Natürlich ist es schön, deutsche Nationalspieler zu haben. Aber wir sind ein Klub, der für sein Geld den bestmöglichen Kader zusammenstellt. Qualität geht klar vor Nationalität. Und leider war es in der Vergangenheit oft so, dass sich der Preis für einen deutschen Spieler, der dem Bundestrainer einmal die Hand gegeben hat, gleich verdoppelt hat. Der THW wollte schon viele deutsche Spieler nach Kiel locken: Pascal Hens, Michael Kraus, Holger Glandorf, Torsten Jansen, Martin Strobel, Silvio Heinevetter. Meistens ist es am Geld gescheitert.

Hat ein Klub wie der THW Kiel eine Verantwortung bei der Ausbildung deutscher Spieler?

Gislason: Es wird oft übersehen, dass wir zuletzt viel Geld in unsere Jugendarbeit investiert haben. Da sind einige Talente dabei, die es in die Bundesliga schaffen können. Unsere A-Jugend hat kürzlich zum ersten Mal beim SC Magdeburg gewonnen. Das hätte vor ein paar Jahren keiner für möglich gehalten. Damals war Flensburg der Vorzeigeklub bei der Jugendarbeit, auch der HSV war uns weit voraus.

Wann wird es das erste dieser Talente in Ihre Mannschaft schaffen?

Gislason: Ich denke, in zwei, drei Jahren wird einer bei uns im Kader stehen. Da haben einige richtig Talent.

Schiedsrichter dürfen neuerdings bis 48 Stunden nach einem Spiel nicht mehr kritisiert werden. Was halten Sie davon?

Gislason: Ich finde das nicht gut. Man sollte seine Meinung schon sagen dürfen. Nach drei Tagen interessiert es keinen mehr. Ich hatte in dieser Saison ein paarmal das Glück, dieselben Schiedsrichter zu haben wie im Vorjahr. Da hätte ich einfach auf meine Kritik von damals verweisen können. Ich habe dann aber darauf verzichtet und versucht, mich zurückzuhalten.

Sie wirken während des Spiels noch immer, als stünden Sie unter Strom. Wird man mit zunehmendem Alter nicht ein bisschen gelassener?

Gislason: Das würde ich mir sehr wünschen. Leider ist es nicht so. Ich bin während des Spiels in meiner eigenen Welt, wie in Trance. Wenn ich später auf Video mit ansehen muss, wie ich mich benehme, ist mir das unangenehm.

Und das geht so weiter, bis Sie 60 sind?

Gislason: So lange habe ich mir vorgenommen, in der Bundesliga zu bleiben, am liebsten in Kiel. Danach muss ich ein Weinbauland finden, in dem ich den Nationaltrainer machen kann.