Bertrand Gille fehlt den HSV-Handballern aufgrund eines Sehnenrisses in der Schulter wohl bis zum Ende seiner zehnten und letzten Saison.

Hamburg. Niklas Albers wusste gleich, dass etwas nicht stimmte. Bertrand Gille, der Kreisläufer der HSV-Handballer, klagte doch tatsächlich über Schmerzen. Albers konnte sich auch Stunden später nicht erinnern, wann er das zuletzt erlebt hatte. Mehr als einmal war er in seinen acht Jahren als Physiotherapeut Zeuge gewesen, wie Gille die Gesetze der Medizin außer Kraft setzte. Ob mit gebrochener Rippe oder lädierter Achillessehne: Der Franzose spielte. "Wenn es irgendwie gegangen wäre, hätte er weitergemacht", sagt Albers. Am Dienstagabend aber ging es nicht weiter. Mit trauriger Miene sah Gille, 34, dem Treiben in der O2 World zu, die rechte Schulter dick mit Eisbeuteln ausgepolstert.

+++ Einlaufkinder gesucht +++

Vielleicht ahnte er zu diesem Zeitpunkt bereits, dass die zwölf Spielminuten beim 28:24-Sieg gegen die Rhein-Neckar Löwen seine letzten für den deutschen Meister gewesen sein könnten. Anderntags wurde die Befürchtung konkret: Die Supraspinatussehne, so ergab die Auswertung der Kernspintomografie, ist angerissen. "Es droht das Saison-Aus", sagte Mannschaftsarzt Oliver Dierk. Für kommenden Montag hat Gil le einen Termin beim Schulterspezialisten Laurent Lafosse im schweizerischen Carouge bekommen. Die Untersuchung soll Aufschluss darüber bringen, ob Gille operiert werden muss oder ob er vor seiner Rückkehr nach Chambéry im Sommer noch einmal für den HSV auflaufen kann.

+++ Die HSV-Handballer versöhnen ihre Fans +++

Von "einer besonderen Tragik" sprach Trainer Martin Schwalb. Schwerer als der sportliche Ausfall für seine Mannschaft wiege der Umstand, dass Gille, der sich in zehn Jahren für den Verein eingesetzt hat wie wohl kein Zweiter, seinen Abschied voraussichtlich nicht auf dem Feld wird zelebrieren können. Im schlimmsten Fall muss er auch seinen Traum verwerfen, bei den Olympischen Spielen in London mit Frankreich den Titel zu verteidigen. "Bobo ist am Boden zerstört", berichtete Schwalb nach einem Telefonat mit dem früheren Welthandballer.

Gilles Verletzung reiht sich ein in eine schwarze Serie. Nicht einmal drei Wochen ist es her, dass sich Torwart Johannes Bitter das Kreuzband riss. Oscar Carlén wird aufgrund des gleichen Missgeschicks die Saison ganz ohne Einsatz bleiben. Die weniger schweren Blessuren dieser Spielzeit aufzuzählen würde den Rahmen sprengen.

Im Nachhinein erscheint fast folgerichtig, dass das Schicksal bei Gille gerade in diesem, seinem 276. Bundesliga- und 388. Pflichtspiel für den HSV zuschlug. Wie Gladiatoren hatten sich die Hamburger in die Zweikämpfe mit den Löwen geworfen, ohne sich weiter um die eigene und die Unversehrtheit des Gegners zu sorgen. Etliche Aktionen waren mit dem Regelwerk des Handballs kaum noch in Einklang zu bringen. Rhein-Neckar-Geschäftsführer Thorsten Storm beklagte hernach die "viel zu harte Gangart" des HSV und sprach von "Affenhandball". Er vergaß dabei lediglich, seine eigene Mannschaft in die Kritik einzubeziehen.

Schwalb zog es vor, etwas pathetisch die "Opferbereitschaft" seiner Mannschaft zu würdigen, wobei er es vermied, Gilles Malheur damit in Zusammenhang zu setzen. Ob sich ein Kraftakt wie am Dienstag im Drei- bis Viertagerhythmus wiederholen lässt, ist für den reaktivierten Trainer nicht die Frage: "Wir müssen diese Energie einfach finden."

Natürlich war es nicht nur rohe Gewalt, die den für die Champions-League-Qualifikation so wertvollen Erfolg möglich gemacht hat. Der HSV hatte die Mannheimer mit einer aggressiven Drei-drei-Deckung überrascht: drei Feldspielern als Sicherung am Kreis, die anderen drei vorgezogen, um den Spielaufbau im wurfgewaltigen Rückraum zu stören. Bertrand Gille, dem neben seinem Bruder Guillaume letzten verbliebenen Gründungsmitglied, war die Aufgabe zugedacht, den Plan auf dem Feld umzusetzen. "Er hat dieses System verinnerlicht", sagte Schwalb.

Der Ausfall seines Vorkämpfers reißt nun auch eine Lücke in das taktische Portfolio. Der Kroate Igor Vori, im Angriff meist erste Wahl, ist aufgrund seiner Körpermasse in der Abwehr nicht so vielseitig einsetzbar wie Gille. Wahrscheinlicher ist, dass Allrounder Matthias Flohr diese Aufgabe übernimmt. Er steht Gille zumindest hinsichtlich der Eigenmotivation kaum nach. Flohr könnte Vori auch am gegnerischen Kreis etwas entlasten. Das freilich hätte zur Folge, dass die Belastung für Torsten Jansen steigt. Der in die Jahre (35) gekommene Linksaußen schleppt sich ohnehin mit körperlichen Problemen durch die Saison. Robert Schulze, 20, aus der Oberligareserve darf zwar im Training bereits bei den Profis mitspielen. Dem Ernstfall aber würde ihn Schwalb wohl nur unter Bauchschmerzen aussetzen.

Für den Rest der Saison - drei Heim-, vier Auswärtsspiele, eine Pokalendrunde - hat der Trainer eine Durchhalteparole ausgegeben: "Wir dürfen kein Jota mehr nachlassen." Das Glück scheint sich vom Meister abgewendet zu haben. Nun soll es offenbar gezwungen werden.

Das Punktspiel bei MT Melsungen am 2. Mai wurde um eine halbe Stunde auf 19.45 Uhr vorverlegt. Sport1 überträgt die Partie live.