Moskau. Das WM-Achtelfinale gegen Spanien könnte der finale Auftritt für Russland auf der eigenen Party sein, ehe der Alltag präsenter wird.

An Zuversicht mangelt es nicht, bei Stanislaw Tschertschessow schon von Amts wegen. „Psychologisch sind wir gut vorbereitet auf die nächsten Partien“, sagte der Trainer der russischen Nationalmannschaft. Dass er im Plural sprach und demnach zumindest Hoffnung auf mehr als nur das Achtelfinale an diesem Sonntag in Moskau gegen Spanien äußert, wäre wohl selbst den größten Optimisten vor wenigen Wochen noch schräg vorgekommen. Denn die Sbornaja gab sportlich viel Anlass zur Sorge, dass es ihr als zweiter Gastgeber-Elf der Geschichte ergehen könnte wie jener von Südafrika 2010, die nach der Gruppenphase auf der eigenen Party nicht mehr zugegen sein durfte.

Doch nun, nach dem besten Turnierauftakt eines Gastgebers seit Italien 1934 samt den beiden Auftaktsiegen gegen Saudi-Arabien (5:0) und Ägypten (3:1) sowie der gesicherten Achtelfinal-Teilnahme schon nach dem zweiten Spiel, kann auch die 0:3-Niederlage gegen Uruguay im abschließenden Gruppenspiel das gestiegene Selbstbewusstsein der Russen nicht erschüttern. Selbst vor dem Vergleich mit der Fußball-Großmacht Spanien.

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„Wir spielen eine gute WM, ungeachtet dieser Schlappe. Auch gegen Spanien wollen wir guten Fußball zeigen“, nahm Mário Fernandes Bezug auf den verpassten Gruppensieg im Spiel gegen Uruguay und befand über den kommenden Gegner: „Wir haben durchaus Respekt.“ Das klang eher keck als nach Hochachtung, und als Argumentationshilfe für diesen recht forschen Ansatz zog der Verteidiger mit den brasilianischen Wurzeln die bisher in der Tat nicht wirklich furchteinflößenden Auftritte der Spanier heran, vor allem jene gegen Iran (1:0) und Marokko (2:2). Der mutige Widerstand dieser beiden Außenseiter dient nun als Vorbild – und nebenbei auch die Blamage des noch zwei Wochen amtierenden Weltmeisters. „Das Ausscheiden von Deutschland hat gezeigt, dass man gegen keine Mannschaft schon im Vorhinein verloren hat“, sagte Fernandes.

Spaß am friedlichen Fest

Es ist der WM zuträglich, dass die Russen bei der eigenen Party weiterhin mitfeiern dürfen. Die Stimmung im Land, jedenfalls unter den Fußballfans, wird bestimmt von einer fröhlichen Ausgelassenheit und Spaß am friedlichen Fest mit den ausländischen Gästen. Mittlerweile stehen die Russen auch nicht mehr ein bisschen verlegen am Rande der Tanzfläche wie noch zu Beginn des Turniers, sondern mischen sich unters internationale Partyvolk und besingen dort mit ihren Rossija-Rufen das neue Selbstbewusstsein im Fußball.

An Patriotismus mangelt es zwar ohnehin nicht. Der Fußball aber gab dafür in den vergangenen drei Jahrzehnten eher selten Anlass. Er hat seit dem endgültigen Zusammenbruch der Sowjetunion 1991, die einst maßgeblich dank der Spieler aus der Ukraine durchaus zum Establishment zählte und sechs Jahre nach dem EM-Titel 1960 WM-Vierter wurde, vor allem ziemlich freudlose Zeiten erlebt. 1986 war die damalige Auswahl der UdSSR letztmals in ein WM-Achtelfinale eingezogen. Das war in jener Zeit, als Diego Maradona wegen seiner Kunstfertigkeit am Ball, sogar mit seiner Hand Gottes, Berühmtheit erlangte und nicht wie jetzt Mitleid erregt, weil er berauscht – von was auch immer – der Welt alle seine zur Verfügung stehenden Stinkefinger präsentiert.

Auch wegen der langen Depression des russischen Fußballs danach darf der aktuelle Ertrag schon als Erfolg gewertet werden. Daran würde wohl auch ein Ausscheiden gegen Spanien wenig ändern, wenngleich Russlands überraschender Aufschwung von ebenso erstaunlichen Laufleistungen seiner Spieler begleitet wird. Spekulationen um Doping wies Russlands Generaldirektor des WM-Organisationskomitees, Alexej Sorokin, selbstredend zurück.

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Natürlich wissen auch die Russen bei aller Zuversicht, dass ihr Gang auf die größte Bühne dieser WM im Luschniki-Stadion mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit ihr letzter Auftritt auf der Party im eigenen Land werden dürfte. „Wir wollen das kleine Wunder schaffen und das ganze Land stolz machen“, sagte Stürmer Artjom Dsjuba am Freitag zwar, er wählte aber auch ein recht passendes Bild für die Kräfteverhältnisse. Das Spiel gegen Spanien sei „wie der Boxkampf eines jungen und frechen Sportlers gegen einen erfahrenen Meister“. Sollte die Sbornaja ausscheiden, wird der Alltag für die Russen wieder präsenter werden, auch wenn die Gäste noch bis zum 15. Juli weiterfeiern. Und ein drohender Kater deutet sich für den Gastgeber schon jetzt an.

Premier Dimitrij Medwedew hatte Stunden vor dem WM-Eröffnungsspiel der Russen Pläne für eine Rentenreform präsentiert, wonach das Eintrittsalter sukzessive von 60 auf 65 Jahre bei den Männern und von 55 auf 63 Jahre bei den Frauen angehoben werden soll. En passant verkündete er, die Mehrwertsteuer solle um zwei auf 20 Prozent steigen. Anders als erhofft gingen die schlechten Nachrichten nicht im Turniertrubel unter. Im Gegenteil: Seither formiert sich breiter Protest. 90 Prozent der Bevölkerung lehnen die Reform laut Umfragen ab, zwei Millionen Menschen sollen bereits eine Petition unterzeichnet haben, berichtet die SZ. Darunter viele treue Sympathisanten des Präsidenten Wladimir Putin, der vorsichtshalber erklärte, er habe sich noch keine abschließende Meinung zu diesem delikaten Thema gebildet. Dass es schmerzhafte Einschnitte im Sozialsystem geben werde, hatte Putin nach Antritt seiner neuen Amtszeit im Mai aber bereits angekündigt.

Putin-Kritiker Nawalny ruft zu Demonstrationen auf

Langjährige Beobachter trauen der Rentenreform zu, dass sie zu größeren politischen Verwerfungen führen könnte. Alexej Nawalny, der bekannteste Putin-Kritiker, hat schon für diesen Sonntag zu Demonstrationen in 20 Städten aufgerufen, parallel zum Achtelfinale der russischen Mannschaft gegen Spanien. Um das während der WM eigentlich geltende Verbot von Protesten zu umgehen, sollen diese nicht in den Spielorten stattfinden. Nach dem Turnier wollen auch die fast schon vergessenen oppositionellen Kräfte wie Kommunisten und Gewerkschaften auf die Straße ziehen. Jewgeni Roisman, der Ende Mai kurz vor der WM zurückgetretene und nun ehemalige Bürgermeister des Spielorts Jekaterinburg, sieht schwere Zeiten auf Russland zukommen. „Die Bevölkerung wird intensiver zur Kasse gebeten“, sagte der Oppositionelle der dpa, und Kremlchef Putin kümmere sich nur darum, an der Macht zu bleiben, Wahlmanipulationen inklusive. Dabei stehe das Land vor ernsthaften Problemen wie dem schlechten Gesundheitswesen, der niedrigen Lebensqualität und der Verarmung.

Ein bisschen Ablenkung durch die WM und bisher erfolgreiche Sbornaja kommt da vielen im Land gerade recht. Und vielleicht ließ sich der Optimismus von Russlands Trainer Tschertschessow vor dem Achtelfinale gegen Spanien auch vor diesem Hintergrund einordnen. Nachdem der Einzug in die Runde der besten 16 feststand, sagte er bereits zu der Frage, wie weit es sein Team noch bringen könne im Turnier: „Ich hoffe, dass noch viele schöne Tage kommen werden. Das Beste, was wir tun können, ist ausschlafen, ausruhen, wieder gut schlafen. Und dabei können wir uns dann ein paar nette Gedanken machen.“ Der Alltag kommt ja schnell genug zurück. Die Zeitung Sport-Express formulierte es vor dem Spiel gegen Spanien so: „Lasst es uns würdig beenden – und falls es geht, nicht schon am Sonntag. Die WM ist so schön.“