Der FC St. Pauli verspielt beim 2:3 in Dresden eine klare Führung und verpasst zum wiederholten Mal den entscheidenden Befreiungsschlag.

Dresden/Hamburg. Rachid Azzouzi ahnte, was da kommen würde. Als Filip Trojan, der frühere Profi des FC St. Pauli, den schönsten Spielzug der Partie mit einem sehenswerten Fallrückzieher vollendet und den Anschlusstreffer für Dynamo Dresden erzielt hatte, sagte der Sportdirektor auf der Bank zu Torwarttrainer Mathias Hain: "Das ist zu früh."

Eine knappe halbe Stunde war noch zu spielen, St. Pauli führte nun nur noch mit 2:1 in Dresden, das noch tiefer im Kampf um den Klassenerhalt steckt und das der FC St. Pauli durch einen Sieg auf 12 Punkte hätte distanzieren können. Doch mit dem Trojan-Treffer änderte sich auf einmal alles. Die Stimmung im Stadion schlug um - statt Pfiffen und "Wir wollen euch kämpfen sehen"-Rufen feuerten die Schwarzgelben ihre Mannschaft wieder in einer Lautstärke und mit einem Enthusiasmus an, wie es nur selten vorkommt in der Zweiten Liga. Dresden war urplötzlich wieder lebendig. Die Mannschaft von Michael Frontzeck, die bis zu diesem Zeitpunkt kaum Chancen des Gegners aus dem Spiel heraus zugelassen hatte, geriet ins Schwimmen und konnte sich kaum noch befreien. Eine Viertelstunde später wurden Azzouzis Befürchtungen wahr. Dresden hatte das Spiel gedreht, hatte geschafft, was den Hamburgern im Hinspiel gelungen war und am Ende nach 0:2-Rückstand noch mit 3:2 gewonnen.

Sechs Spieltage vor Saisonende beträgt der Vorsprung des FC St. Pauli auf den Relegationsplatz statt zwölf Punkten nur sieben Zähler - und auf dem drittletzten Platz steht nicht mehr Dynamo Dresden, sondern der VfL Bochum, in zwei Wochen der nächste Auswärtsgegner des FC St. Pauli.

"Egal, wie lange man im Geschäft ist, solche Niederlagen sind immer die bittersten. Das fühlt sich an wie 24 Stunden Sodbrennen", sagte Michael Frontzeck am Tag nach der zweiten Auswärtspleite in Folge, bei der seine Mannschaft zwei Tore erzielte und trotzdem mit leeren Händen die Heimreise hatte antreten müssen. Dennoch wollte der Trainer angesichts des erneut verpassten endgültigen Befreiungsschlags im Abstiegskampf keine Unruhe aufkommen lassen. "Das Gerede interessiert uns nicht", sagte er. "Wir haben alles selbst in der Hand, werden jetzt zur Ruhe kommen und uns auf das nächste Spiel vorbereiten." Am Sonnabend kommt 1860 München ans Millerntor. "Meine Mannschaft kann an guten Tagen jeden Gegner schlagen", sagt der Trainer optimistisch. "Ich bin überzeugt, dass wir uns da befreien", sagt Stürmer Daniel Ginczek, der sein 13. Saisontor in typischer Manier erzielt hatte, kurz vor Schluss aber das mögliche 3:3 vergab, als ihm allein vor Torwart Benjamin Kirsten der Ball zu weit vom Fuß sprang. Nach dem Gesetz der Serie ist Ginczeks Hoffnung durchaus berechtigt. Seit der Winterpause lässt sich St. Paulis Erfolgskurve in drei Phasen einteilen: Einem Punkt aus den ersten drei Spielen folgten drei Siege. In den vergangenen drei Spielen gab es wiederum nur einen Punkt. Guten Spielen folgen schwächere, nach Niederlagen und mit dem Rücken zur Wand meldet sich die Mannschaft mit beeindruckenden Leistungen zurück. Jetzt wäre also wieder eine Erfolgsserie dran.

Frontzeck hat das Problem erkannt, allerdings nur eine Erklärung und keine Lösung parat: "Das Auf und Ab in dieser Saison ist natürlich", sagte er. "Die Mannschaft ist neu zusammengestellt und zusätzlich haben wir immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen, müssen die Mannschaft immer wieder umstellen und haben nie die Möglichkeit, mal in der gleichen Formation aufzulaufen. Wir müssen und wir können damit leben."

Das tat die im Vergleich zum Spiel gegen Paderborn auf vier Positionen veränderte Mannschaft auch in Dresden zunächst. In der Defensive kompromisslos agierend, fehlte nach vorne vor allem die Passgenauigkeit, sonst hätte St. Pauli auch schon vor der Pause in Führung gehen können. Bis zur 60 Minute sei es eines der besseren Auswärtsspiele gewesen, so der einhellige Tenor. Probleme bekam St. Pauli - wie schon gegen Paderborn - erst nach der Systemumstellung des Gegners, der nach einer Stunde mit zwei Stürmern voll auf Risiko setzte. "Wir hätten mehr Ruhe bewahren und länger den Ball halten müssen", sagte Fin Bartels.

Statt Ruhe kam Hektik auf, statt einen überlegten Konter zu fahren, wurde jeder Ball so weit wie möglich, aber eben auch unpräzise aus der Gefahrenzone befördert. Individuelle Fehler und ein bisschen Pech ermöglichten die drei Gegentreffer binnen 15 Minuten. Es waren die Gegentreffer neun, zehn und elf in den vergangenen vier Spielen - definitiv zu viele, um sich aus dem Abstiegskampf zu verabschieden. Die Wellenbewegungen ziehen sich durch alle Mannschaftsteile und durch die komplette Spielzeit. Nach der langen Sturmflaute in der Mitte der Saison und nach zuvor 290 Minuten ohne Gegentor, muss sich St. Pauli nun um seine sonst so sichere Defensive sorgen. "Das sehe ich nicht so", sagte Frontzeck jedoch. "Die Mannschaft hat insgesamt besser verteidigt als zuletzt." Probleme bereiteten den Hamburgern vor allem die vielen Freistöße. Zwei davon führten zu Gegentoren. Zumindest in diesem Punkt hat Frontzeck konkrete Möglichkeiten, etwas zu verändern. Konstanz dagegen lässt sich nur schwer trainieren.