Auf einer bewegenden Pressekonferenz erklärte St. Paulis Trainer Holger Stanislawski, warum er den Verein am Ende der Saison verlassen wird.

Hamburg. Um 10.14 Uhr war die Musik aus. In Begleitung von Präsident Stefan Orth, dessen Vize Gernot Stenger und Sportchef Helmut Schulte hatte St. Paulis Trainer Holger Stanislawski kurz zuvor das Funktionsgebäude auf der Trainingsanlage an der Kollaustraße betreten. Wo eben noch die Bässe von Natalia Kills' Hit "Mirrors" dröhnten, herrschte plötzlich Stille. "Turning the lights out" heißt eine immer wiederkehrende Zeile im Liedtext der Britin. Dass die Lichter beim Kiezklub in näherer Zukunft ausgehen werden, ist nicht zu erwarten. Trotzdem herrschte Grabesstimmung angesichts dessen, was die Vereinsführung den Spielern vor der Vormittagseinheit zu verkünden hatte: "Stani" verlässt den Verein, das Herz von St. Pauli schlägt ab kommender Saison an einem anderen Ort.

Rund drei Stunden später wandte sich der Coach auf einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz mit Tränen in den Augen an die Öffentlichkeit und verkündete in einer bewegenden, 37-minütigen Rede offiziell seinen Abschied. "Ich werde immer den Totenkopf im Herzen tragen, der Verein hat mich mein halbes Leben begleitet", sagte der 41-Jährige, der sich während seines Monologs immer wieder kurze Auszeiten nehmen musste und sichtlich um Fassung rang. 18 Jahre lang war er eins mit dem FC. Erst als Spieler, später als Praktikant, Vizepräsident, Manager und schließlich seit 2006 als Trainer. "Wir verlieren unser absolutes Aushängeschild", sollte Sportchef Schulte später feststellen.

Spätestens als der in ein graumeliertes Jackett und einen schwarzen Pullover samt dunkelblauem Schal gekleidete Stanislawski seinen nahenden Abschied mit Geschehnissen rund um den kürzlichen Tod seiner zuletzt schwer kranken Mutter verglich, konnten auch viele der anwesenden Vereinsverantwortlichen, Geschäftsstellenmitarbeiter und Journalisten im überfüllten Presseraum die Tränen nicht mehr zurückhalten. Geradezu ergreifend waren die Worte, die der gebürtige Hamburger wählte, emotional und ehrlich. Charaktereigenschaften, mit denen sich der akribische Arbeiter Sympathien über die Grenzen der Hansestadt hinaus erwarb.

"Der Gang vor die Mannschaft war brutal", berichtete Stanislawski und gab zu, auch "vor den Jungs" geweint zu haben. "Selbst wenn ich früher als eisenharter Innenverteidiger galt, habe ich einen weichen Kern. Es ist, als ob man seine zweite Familie verlässt." Mathias Hain beschrieb die Beziehung zwischen Mannschaft und Stanislawski später als kein normales Spieler-Trainer-Verhältnis. "Er ist in der Lage, guter Freund zu sein. Es würde aber niemand versuchen, das zu seinem Vorteil zu nutzen. Der Respekt war immer da", sagte der erfahrene Torwart. "Von daher war das heute auch alles ein bisschen emotionaler als bei anderen Trainern."

Die Frage nach den Beweggründen für seinen Abschied hatte Stanislawski gleich zu Beginn seiner Ausführungen beantwortet. Der Ex-Profi fühlt sich ausgelaugt, was ihm durch seinen offenkundigen Gewichtsverlust anzusehen ist. Er hofft durch eine neue Herausforderung neue Energie zu gewinnen. "Der Rucksack wurde in den letzten Jahren immer schwerer", sagte Stanislawski und machte deutlich, dass ihn auch das Umfeld des etwas anderen Vereins Kraft kostete. Man habe die letzten vier Jahre nur noch auf Baustellen gearbeitet. Nicht nur das sportliche Auf und Ab, auch schwierige Trainingsbedingungen, die angebliche Verstrickung St. Paulis in den Wettskandal und der versuchte Selbstmord seines ehemaligen Spielers Andreas Biermann haben ihm zu schaffen gemacht. "Meine Batterie wurde immer leerer, irgendwann lädt sich der Akku nicht mehr auf. Es ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich gehen muss", sagte Stanislawski, der St. Pauli als Trainer von der Drittklassigkeit in die Bundesliga führte.

Wohin ihn sein Weg führen wird, wollte er nicht verkünden. Noch seien einige Details zu besprechen. "Es wird sich in den nächsten Tagen entscheiden", sagte Stanislawski, der als Wunschkandidat von Liga-Rivale 1899 Hoffenheim gilt. Dessen Mäzen Dietmar Hopp macht keinen Hehl aus seiner Wertschätzung für St. Paulis Trainer. "Er kann motivieren und begeistern. Das kann ja nicht schaden", sagte Hopp. "Ich spüre die Sehnsucht unserer Fans nach einem Aufbruch." Die Kraichgauer trennen sich zum Saisonende von Chefcoach Marco Pezzaiuoli - der Weg für eine Neubesetzung ist frei.

Auch wenn es auf der Hand liegt, dass Klubs wie Hoffenheim bei der Gehaltsgestaltung ganz andere Möglichkeiten als St. Pauli haben, betonte Stanislawski, dass seine Entscheidung keinerlei finanzielle Hintergründe habe. Im Gegenteil: St. Pauli habe ihm ein lukratives Angebot gemacht, das er eigentlich gar nicht habe ablehnen können. Der Wunsch, den nächsten Schritt in seiner Trainerkarriere zu machen, war letztlich stärker. Seit Längerem hatten die Verantwortlichen vergeblich versucht, dem Trainer eine Klausel abzukaufen, die ihm nun den vorzeitigen Ausstieg aus seinem eigentlich bis 2012 gültigen Kontrakt möglich macht.

Zu den noch zu klärenden Details zählt, wen Stanislawski mit zu seinem neuen Klub nimmt. Die Co-Trainer Andre Trulsen und Klaus-Peter Nemet seien zwei Menschen, die ein Segen für ihn und den ganzen Verein gewesen seien. Zwei, die er gerne weiter an seiner Seite wüsste. Gleiches gilt für Teammanager Christian Bönig. Bis zum 14. Mai will sich Stanislawski, dem Schulte als Dank für seine Leistungen eine lebenslange Dauerkarte versprach, voll auf die Arbeit bei St. Pauli konzentrieren. Er begründete den Zeitpunkt für die Verkündung seines Weggangs auch mit dem Wunsch nach Ruhe im Kampf gegen den Abstieg. Noch stehen fünf Spiele an, das nächste am Sonnabend beim direkten Konkurrenten Wolfsburg. Verabschiedet hat er sich gestern trotzdem schon mal. "Wie sagt man in Hamburg? Tschüs und bis bald", presste er mit tränenerstickter Stimme heraus.