Stanislawski kehrt zum Leistungsprinzip zurück und verdoppelt das Trainingspensum: “Alle starten bei null.“ Sehen Sie die Rede im Video.

Hamburg. Die Ruhe bewahren. Beharrlich bleiben. Aktionismus vermeiden. Dem eingeschlagenen Weg vertrauen.

Der FC St. Pauli begegnete seiner Krise in den vergangenen Wochen mit jener Leichtigkeit und jenem Selbstbewusstsein, das der Mannschaft beim 0:0 gegen Frankfurt, dem desaströsen 0:3 in Kaiserslautern und einer 0:1-Niederlage gegen Bielefeld abhanden gekommen war. Trotz drei torloser Partien in Folge hielten Spieler, Trainer und Sportchef an ihrer Marschroute fest: "Wir sollten bewusst nichts ändern", hatte Torwart Mathias Hain kritischen Nachfragern souffliert. "Den eingeschlagenen Kurs halten", riet Holger Stanislawski, während Helmut Schulte empfahl, "die Ruhe zu bewahren. Egal was passiert." Eine Passivität, mit der die Mannschaft auch am Sonntag ins Spiel bei 1860 München ging. Zwar brachte die 80-minütige Überzahl nicht den erhofften Sieg (1:2), dem Trainer aber eine wichtige Erkenntnis. Während die Spieler nach dem Abpfiff brav den vorgelebten Kurs hielten, Stärken herausstellten, sich über fehlendes Glück und umso größeres Pech echauffierten, hielt Stanislawski bereits eine Hand an der Reißleine, die er gestern Morgen mit einem kräftigen Ruck zog.

+++ Im Wortlaut: Stanislawskis Brandrede +++

"Wir haben heute die Reset-Taste gedrückt."

"Ich bin heute nicht gewillt, Fragen zu beantworten", ließ er die Medienvertreter im Pressekonferenzraum des Millerntor-Stadions zur Begrüßung wissen und fügte die Erklärung gleich an: "Es sind ja jede Woche die gleichen." Vielmehr begann der Trainer einen kritischen Monolog über die jüngste Fehlentwicklung und deren ab sofort greifende Konsequenzen. Dass diese für die direkt Beteiligten nicht angenehm sein werden, war bereits zu erahnen gewesen. Nach vorangegangener 45-minütiger Mannschaftsbesprechung hatte der Großteil der Spieler den Raum mit schuldbewusstem Blick und gesenktem Kopf verlassen. "Ich habe ihnen klar meine Meinung gesagt und bin in die Einzelkritik gegangen. Es ging von Note Sechs bis bundesligauntauglich", verriet Stanislawski, "aber das ist jetzt eigentlich nur noch zweitrangig, denn ich habe ein paar Entscheidungen getroffen. Wir haben heute die Reset-Taste gedrückt." Und damit auch das vorläufige Ende der Spaßkultur eingeleitet. Der Trainer verzichtete auf große Gesten, verkündete seine Maßnahmen aber mit einer Bestimmtheit und Entschlossenheit, dass sich die gefühlten Temperaturen den äußeren Witterungsbedingungen anpassten. Eiszeit auf St. Pauli.

"Wir werden trainieren. Ob 30 Zentimeter Neuschnee liegen, ob Bäume umstürzen. Das ist völlig egal. Da könnte ein Erdbeben passieren. Dann gibt es Schutzhelme, und los."

"Wir werden ab Mittwoch zur Kollaustraße zurückgehen, dort, wo alles begann, und nicht mehr im Stadion trainieren. Egal wie das Wetter ist, egal wie die Platzverhältnisse sind. Ob 30 Zentimeter Neuschnee liegen, ob Bäume umstürzen oder Wasser auf den Plätzen ist. Das ist völlig egal. Da könnte ein Erdbeben passieren, wir trainieren. Dann gibt es Schutzhelme, und los. Wir werden anfangen uns alles zurückzuholen, was wir uns über Monate erarbeitet haben", kündigt der 40-Jährige eine Rückkehr zu den Wurzeln an. Lokal, aber auch fußballerisch: "Wir werden anfangen, in den Trainingseinheiten wieder Kreativität zu entwickeln. Und wenn wir nicht mit dem Ball arbeiten können, dann werden wir Laufen gehen und Krafttraining machen." Und das ab sofort zweimal täglich. Sollte eine Einheit gestrichen werden, erfährt esdie Mannschaft erst am Arbeitstag, der nun um 9.30 Uhr beginnt.

"Unser großes Problem ist die Angst etwas zu verlieren, was wir noch gar nicht haben, und nicht geil darauf zu sein, etwas zu bekommen, das wir noch nicht besitzen."

Der heutige Tag solle der vorerst letzte freie sein und dazu genutzt werden, "dass die Spieler ihren Spind im Stadion räumen. Ich bin bereit zu kämpfen, und jeder der das auch ist, ist herzlich willkommen beim Training. Schlimmer als die Ergebnisse ist die Art und Weise, wie wir Fußball spielen. Nur ganz wenige Spieler kriegen eine vernünftige Leistung hin. Und das ist schon länger so. Unser großes Problem ist Angst. Die Angst etwas zu verlieren, was wir noch gar nicht haben, und nicht geil darauf zu sein, etwas zu bekommen, das wir noch nicht besitzen".

Spät, aber vielleicht gerade noch rechtzeitig hat Stanislawski einen harten Kurswechsel vollzogen. Auf Zuckerbrot folgt Peitsche. Eingefahrene Wege werden verlassen, der Sonderstatus, der formschwacheSpieler wie Charles Takyi zuletzt vor der Reservebank bewahrte, ist aufgehoben. Das Leistungsprinzip soll nun auch wieder tatsächlich greifen.

"Jeder bekommt seine Chance, jeder fängt bei null an und wird neu beurteilt. Es gibt keine Stammformation mehr. Wer im Training überzeugt, wird auch spielen."

"Jeder bekommt seine Chance, jeder fängt bei null an und wird neu beurteilt. Es gibt keine Stammformation mehr. Wer mich im Training überzeugt, wird auch spielen." Neue Maßnahmen, neue Hierarchien - und sogar eine neue Saison, wie Stanislawski erläutert: "Wir starten am Mittwoch in die Vorbereitung auf eine Neun-Spiele-Saison. Wir schauen nicht mehr auf die Tabelle, denn da stehen 0:0 Tore und null Punkte. Es geht neu los. Ich erwarte von jedem Spieler einen Quantensprung in der Leistung. Und so wird es auch kommen." Nicht weniger als die Maximalausbeute von 27 Punkten lautet das ausgegebene Ziel, das am Ende den Aufstieg bedeuten würde.

Mit seiner eindrucksvollen Rede hat Stanislawski alles weggewischt, was war und einen Pflock in den Zeitstrahl dieser Saison gerammt. Die Vehemenz und Entschlossenheit, die in seinen Worten mitschwang, sollte den Spielern als Maßstab dienen und verdeutlicht die Ambitionen, die der Trainer nach wie vor hat. Vor allem die Rückkehr auf das baufällige, spartanische Trainingsgelände an der Kollaustraße soll den Spielern den Blick auf das Wesentliche schärfen: "Wir werden das Stadion nur noch nutzen, um zu spielen. Das ist hier nicht unser Trainingsgelände sondern unsere Spielstätte. Und mittlerweile geht fast schon die Freude verloren, am Wochenende hier spielen zu dürfen." Zurück zu den Wurzeln, zurück auf null, zurück zum Erfolg. Eine Rechnung, die aufgehen muss. Es ist Stanislawskis letzter großer Trumpf aus der Motivationskiste.

Die ersten Opfer des Kurswechsels stehen übrigens schon fest: "Ich kann nur jedem Maulwurf raten sich ein neues Zuhause zu suchen, falls er sich an der Kollaustraße eingenistet hat", sagt Stanislawski, "es wird laut."