“Mein Moment“ ist die Serie zur Aufstiegssaison des FC St. Pauli. Heute Teil 3: Der in Aachen verunglückte Fan Sven “Mini“ Meyer.

Hamburg. Sven Meyer ist nicht zu erreichen. Das Handy klingelt durch, niemand hebt ab. Irgendwann antwortet die Mailbox: "Hallo, du bist verbunden mit dem FC St. Pauli, Mini hier." "Mini" - unter diesem Spitznamen kennen viele den 40-Jährigen, dessen Herz so sehr für den Kiezklub schlägt. Noch nicht einmal auf seinem Anrufbeantworter lässt er daran zweifeln. "Hinterlasse bitte eine Nachricht, und wenn du wichtig bist, rufe ich dich zurück."

Es liegt nicht am mangelnden Stellenwert des Anrufers, dass die Rückrufe im August vergangenen Jahres ausbleiben. Dutzende versuchen den Uetersener zu erreichen, rufen an, schreiben SMS. Eine Antwort erhalten sie nicht. Was manche zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Mini befindet sich im künstlichen Koma. Beim Auswärtsspiel in Aachen war er über eine Brüstung rund sechs Meter in die Tiefe gestürzt und schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden. St. Pauli gewann 5:0, Mini verlor beinahe sein Leben.

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Noch heute weiß das Mitglied des Fanklubs "Kleine Mexikaner" nicht genau, was an jenem Montagabend eigentlich passierte. Es existiert ein Video, doch bislang hat er es sich nicht angesehen. "Ich soll auf einer Balustrade gesessen haben und wollte wohl einen anderen Fan zu mir hochlassen. Dann bin ich gefallen", erzählt der gelernte Lackierer, der seit 15 Jahren als Papiermacher arbeitet. Seine Krankenakte klingt nach Totalschaden: die Speiche im linken Arm, das rechte Handgelenk, das Brustbein, der Ober- und der Unterkiefer, das rechte Jochbein - alles gebrochen. Die Ärzte diagnostizieren außerdem ein Schädel-Hirn-Trauma und eine Sehnenverletzung.

"Halte durch", schreiben in den schweren Tagen des Sommers 2009 andere Fans in ihrer Hilflosigkeit auf Plakate, auch die Mannschaft wünscht mit einem Banner "Gute Besserung". Vielleicht helfen die guten Wünsche, denn Minis Zustand bessert sich, die Ärzte entscheiden, ihn nach rund zwei Wochen aus dem Koma zu holen. Dass er kurz nach dem Aufwachen schon wieder an seinen Verein dachte, weiß der Single nur aus Erzählungen. Eine Krankenschwester habe ihm von der damaligen Spitzenposition St. Paulis berichtet, heißt es. Erst als sie ihm eine ausgedruckte Tabelle hinhielt, habe Mini es glauben können.

Später, auf Station im Klinikum Eilbek, lässt er sein Zimmer mit St.-Pauli-Motiven tapezieren. Den "kleinen Mexikaner" zieht es zurück ans Millerntor. Er überlegt, ins Stadion auszubüxen - bloß für zwei, drei Stunden, und dann wieder zurück ins Krankenhaus. Letztlich entscheidet er sich dagegen, versucht auf "legalem" Weg die Erlaubnis der Ärzte zu bekommen. Als er dann eines Morgens von einer Behandlung zurückkehrt, hat sein Zimmerkollege tolle Neuigkeiten: "Du bist beim Spiel dabei", habe er gesagt, erinnert sich Mini. "Innerlich habe ich mich darüber natürlich unglaublich gefreut."

In Begleitung eines Arztes und einer Krankenschwester erlebt er dann seinen großen Moment, darf Anfang Oktober die Partie gegen 1860 München verfolgen. Nicht wie sonst auf der Gegengerade, sondern bei Corny Littmann in der Loge. Das sei wirklich nett vom Präsidenten gewesen, sagt er. Carsten Rothenbach, Marius Ebbers und Deniz Naki erzielen beim 3:1 die Tore, "Mini" ist glücklich. Drei Wochen später steht er beim 1:1 gegen Cottbus wieder auf seinem gewohnten Platz.

Sein offizielles Comeback feiert er dann beim Rückspiel gegen Aachen. Mini trifft Christian Schmidt, den Torwarttrainer der Alemannia, der gemeinsam mit Aachens Teamarzt Dr. Alexander Mauckner am Tivoli erste Hilfe leistete. Er will ein paar Worte übers Stadionmikrofon an die Zuschauer richten, aber die Emotionen sind zu stark, er bekommt kaum einen Ton raus. Während die Fans "You'll Never Walk Alone" anstimmen, dreht Mini mit Tränen in den Augen eine Ehrenrunde. Es herrscht Gänsehautatmosphäre, Hamburger wie Aachener spenden Beifall.

Mittlerweile ist Mini wieder regelmäßig bei den Spielen dabei, verfolgt diese allerdings nur mit dem linken Auge. Im rechten, so hofft er, wird sich das Sehvermögen bessern, sobald eine Platte aus seinem Kopf entfernt wurde. Auch seine rechte Hand kann er noch nicht richtig bewegen. "Das Schlimmste habe ich aber hinter mir", sagt Mini, der künftig andere Fans warnen will, wenn diese auf Absperrungen klettern. Dass er dies selbst noch einmal tun wird, kann er nicht ausschließen.

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