Durch das deutliche Votum der Mitglieder für die Ausgliederung der HSV-Fußballabteilung ist die Zukunft der bisherigen Verantwortlichen ungewiss. Jarchow könnte bezahlter HSV-Präsident werden.

Hamburg. Um 18.07 Uhr, 35 Minuten nach dem Ende einer denkwürdigen Sitzung, als fast alle der HSV-Anhänger das Stadion verlassen hatten, stand Otto Rieckhoff nahe der Mittellinie mit den künftigen Aufsichtsräten zusammen. Nach einigen Minuten verließ Karl Gernandt die Runde, um ein längeres Telefonat zu führen. Vermutlich musste er ein für 17 Uhr verabredetes Gespräch nach Russland nachholen – mit Dietmar Beiersdorfer.

Der verspätete Anruf hatte einen berechtigten Grund, an Ruhe war vorher nicht zu denken. Ein Jubelorkan entlud sich, als Versammlungsleiter Jens Meier um 16.33 Uhr das Ergebnis der Abstimmung über HSVPlus verlas: 7992 Menschen hatten per elektronischem Knopfdruck ihr Ja-Wort für eine Ausgliederung der Profiabteilung gegeben, die notwendige Drei-Viertel-Mehrheit wurde bei 86,9 Prozent locker genommen. 1206 Mitglieder (13,1 Prozent) versagten dem Antrag die Unterstützung, 44 Menschen enthielten sich.

In Reihe sechs auf der Westtribüne stand Gernandt, der künftige Aufsichtsratschef, neben Otto Rieckhoff, dem Vater der Initiative. Dass die Zustimmung enorm groß sein würde, war spätestens dann klar, als Rieckhoffs Antrag auf Vorverlegung der Abstimmung über HSVPlus mit 88,9 Prozent angenommen worden war. Und doch kribbelte es bei den Machern von HSVPlus, kurz bevor ihre Vision Wirklichkeit werden sollte. Als das Ergebnis feststand, ballte Gernandt die linke Hand zur Faust und schleuderte sie mehrfach in die Luft, bevor er Rieckhoff umarmte.

Der 25. Mai ist ab sofort nicht nur ein historisches Datum, weil den HSV-Profis 1983 an jenem Tag mit dem Europacup-Sieg der größte HSV-Triumph gelungen war. Der 25. Mai wird nun auch als ein Tag in die Club-Annalen eingehen, an dem die Basis mit einer Rekordbeteiligung – zwischenzeitlich waren 9702 Mitglieder anwesend – eine Struktur-Revolution beschloss: die Umwandlung der Profi-Fußballabteilung in eine Aktiengesellschaft.

Kritiker wie Aufsichtsrat Christian Strauß („Wem die Raute am Herzen liegt, stimmt gegen die Ausgliederung“) oder Jürgen Hunke („Das ist wie eine Beerdigung des alten Vereins“) standen von vorneherein auf verlorenem Posten. Als Hunke das erste Mal die Bühne betrat, wurde er mit so lauten Buh-Rufen empfangen, dass sich sogar Rieckhoff genötigt sah, auf sein Lager beschwichtigend einzuwirken.

„Mit breiter Brust in die Transferperioden“

Doch um 16.40 Uhr waren alle Argumente gegen HSVPlus Makulatur. Gleich seine erste Rede vor den begeisterten Mitgliedern nutzte Gernandt, der neue starke Mann beim HSV, dazu, seine Grundsätze zu skizzieren: „Wir wollen innerhalb von drei Jahren eine solide Mannschaft auf die Beine stellen – mit Nachwuchsspielern auf dem Rasen. Wir wollen in den Transferperioden mit breiter Brust auftreten können, weil die Finanzen geregelt sind. Und was den Breiten- und Amateursport betrifft, so wünsche ich mir, dass wir in drei Jahren lachen, in welche Dinge wir uns 2014 verrannt haben. Natürlich wird der Verein weiterleben.“ Hintergrund: Etliche Mitglieder hatten Ängste geäußert, dass in der neuen Struktur der kleine Sport leiden könnte.

Es dauerte aber nur wenige Sätze, bis er zur Frage alle Fragen kam: Wer soll den HSV operativ leiten? Keine Überraschung: Beiersdorfer. „Wir haben uns in die Hand versprochen, dass wir alles dafür tun, dass er für diesen HSV im Team dabei ist.“ Riesen-Applaus von den Rängen. Längst ist bekannt, dass Beiersdorfer bei Zenit St. Petersburg noch bis 2015 unter Vertrag steht. Deshalb soll der frühere Sportchef der Hamburger, der den Club 2009 verlassen hatte, in den „nächsten Tagen in seinem Umfeld Klarheiten schaffen“, wie es Gernandt formulierte. Zwar habe er einen Plan B in der Tasche, falls die Verpflichtung Beiersdorfers am Ende scheitern sollte, was dann aber nicht am 50-Jährigen liegen würde. „Wir sind uns eigentlich mit ihm einig“, sagte Gernandt über den Stand der Gespräche. Beiersdorfer befindet sich derzeit auch schon in Hamburg.

Voll handlungsfähig wird das neue Team ab dem 1. Juli sein. Um die bisher schon existierende Sport AG in die „Fußball AG“ von HSVPlus umzuwandeln, ist ein Eintrag ins Handelsregister notwendig. Dieses wird innerhalb der kommenden vier Wochen erfolgen. Bis dahin befindet sich der HSV aber noch in einer Übergangsphase. Zwar sprach sich (per Stimmzettel) eine überwältigende Mehrheit für den von Gernandt angeführten Aufsichtsrat aus, dem auch Thomas von Heesen (Stellvertreter), Peter Nogly, Bernd Bönte, Felix Goedhart, Dieter Becken angehören. Doch die Abstimmung war nur ein Meinungsbild für den noch amtierenden Vorstand des e.V., der laut Satzung die Aufsichtsräte der Sport AG ernennen muss.

Ein Aufsichtsrat auf Abruf

Die bisherigen Aufsichtsräte sind jedoch bis zum 1. Juli weiterhin verantwortlich für das Absegnen von Transfergeschäften. In den „Aufsichtsrat auf Abruf“ musste deshalb satzungsgemäß der ehemalige Profi Andreas Merkle gewählt werden. Zwei weitere Kandidaten fielen durch, weshalb der neue Rat des e.V. derzeit acht Mitglieder hat.

Mit Aufsichtsratschef Jens Meier, der die Sitzung souverän leitete und auch entlastet wurde, will sich Gernandt in der kommenden Woche „beraten, wie wir gewisse Dinge bewegen“. Zunächst traf sich aber der neue Aufsichtsrat der AG am Sonntagabend im Restaurant Il Vagabondo im Anschluss an die Versammlung. Dabei wurde nicht nur feuchtfröhlich gefeiert, sondern auch diskutiert, was jetzt anliegt.

„Ich befinde mich in einem Übergangszustand“, sagte auch Carl Jarchow, der als Vorstandschef die Ausgliederung vorbereitete und seinen Vertrag bis Mai 2015 erfüllen möchte, wie er bestätigte. Da HSVPlus mit Beiersdorfer und Joachim Hilke in der neuen operativen Führung plant, ist eine Verlängerung seines Kontrakts auf AG-Basis ausgeschlossen. Einzig denkbare Variante wäre, dass Jarchow bezahlter HSV-Präsident wird, eine ehrenamtliche Tätigkeit lehnt er ab. Auch die Zukunft von Oliver Kreuzer, der gerne als Manager eine Hierarchieebene unter dem Vorstand arbeiten würde, ist offen.

„Mein Wunsch ist es, den neuen Aufsichtsrat mit ins Boot zu holen“, sagt Kreuzer. Seine Situation ist ja äußerst diffizil, seine Zukunft unklar. Er hat sich als Unterstützer für HSVPlus geoutet und war deshalb froh über das Ergebnis am Sonntag. Aber er weiß nicht, ob er im Amt verbleiben soll, wenn erst einmal ein neuer Vorstand bestellt ist. Wunsch-Vorstandschef Beiersdorfer hat seine Fähigkeiten als Sport-Verantwortlicher hinlänglich bewiesen. „Didi ist ein langjähriger Weggefährte, wir haben oft gegeneinandergespielt, sind uns auch zuletzt immer mal über den Weg gelaufen“, sagt Kreuzer und hofft auf ein baldiges Gespräch.

Er hat einen Vertrag bis 2016, eine Trennung würde eine erhebliche Abfindung kosten. Seinen jetzigen Vorstandsposten allerdings ist er auf jeden Fall los, womit er kein Problem hat: „Ich war immer Sportchef und für Fußball verantwortlich. Der Posten im Vorstand ist für mich nicht entscheidend“, sagt der 48-Jährige, „ich bin ganz entspannt, für mich geht es normal weiter.“

Dazu gehört an diesem Montag auch ein Gespräch gemeinsam mit Trainer Mirko Slomka im UKE mit den medizinischen Betreuern des HSV. Ein neuer Mannschaftsarzt wird gesucht, Topkandidat Michael Joneleit (Offenbacher Kickers) hat abgesagt. In der Leistungsdiagnostik will sich der Verein „neu aufstellen“, auch ein Nachfolger für Physiotherapeut Stefan Kliche (zu St. Pauli) wird noch gesucht.

Wie auch immer die Personalgespräche geführt werden: Die Erwartungshaltung vieler Mitglieder ist eindeutig, was das künftige Klima innerhalb des HSV betrifft: „Ich bin es leid, wie sich unsere Gemeinschaft darstellt“, sagte stellvertretend Dirk Mansen, der ehemalige Museumschef. „Ich erlebe vielfach Zerstrittenheit, gegenseitige Diffamierungen und wünsche mir einen Neustart, auch der Supporters, der von Respekt und und Verantwortungsbewusstsein geprägt ist.“