Vor dem Rückrundenauftakt gegen Schalke am Sonntag wurde die Zielsetzung von Platz sechs auf das Überleben in der Bundesliga herabgesetzt. In die Vorfreude auf die Rückrunde mischt sich die Angst vor dem Absturz.

Hamburg. Zwei Tage vor dem Rückrundenstart sollte man lieber nichts dem Zufall überlassen. Ein bisschen Akupunktur habe er bereits gemacht, sagte Tolgay Arslan am Freitagmittag, nun bräuchte er noch eine Thermohose für seine gereizten Adduktoren. Und natürlich müsse er sich vor dem Geheimtraining, das eigentlich nicht mehr und nicht weniger geheim als das Donnerstagstraining war, zunächst mal in den Katakomben warm machen, ehe es raus in die Eiseskälte ging. „Ich bin heiß, endlich wieder zu spielen“, sagte Arslan, was zwei Tage vor der Partie gegen Schalke 04 an diesem Sonntag (17.30 Uhr/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) bei Temperaturen jenseits des Gefrierpunktes eine ganz erstaunliche Zustandsbeschreibung ist.

Es geht also wieder los. Doch mischt sich in die allgemeine Vorfreude auf die Rückrunde auch ein wenig Angst vor dem Totalabsturz. Gerade mal zwei Pünktchen trennen den HSV von einem Relegationsplatz, weshalb das Saisonziel in der Winterpause offiziell von Platz sechs auf das nackte Überleben in der Bundesliga korrigiert wurde. Ein Herabstufung der unerfreulichen Art und Weise. „Die Jungs müssen wissen, in welcher Situation wir sind. Es geht um ihre Arbeitsplätze“, warnte Sportchef Oliver Kreuzer, der das Wort „Abstiegskampf“ am liebsten vermeidet.

Zu frisch sind die Erinnerungen an die vorvergangene Saison, als der HSV bis kurz vor Ende der Spielzeit um seine Bundesligazugehörigkeit zittern musste. Erst am vorletzten Spieltag sicherten die Hamburger damals die Klasse – in der Hoffnung, dass sie sich einen derartigen Überlebenskrimi in naher Zukunft ersparen können. „Ich hasse es, gegen den Abstieg zu kämpfen“, sagt Regisseur Rafael van der Vaart, der wie ein Großteil seiner Kollegen vor zwei Jahren noch nicht dabei war, das Gefühl des Abstiegskampfs aber zum Ende seines ersten HSV-Engagements in der Saison 2006/07 kennenlernen musste.

Wie vor zwei Jahren lähmte auch damals der Kampf ums Überleben die ganze Stadt. In Hamburg bezifferte eine HWWI-Untersuchung von 2007 den Wert der Bundesligazugehörigkeit des HSV für die Region auf 84 Millionen Euro – ein Wert, der in den vergangenen Jahren mit Sicherheit die 100-Millionen-Euro-Grenze übersprungen haben dürfte. So waren schon damals 740 Arbeitsplätze direkt oder indirekt vom Klassenerhalt des HSV abhängig, dazu kamen noch mal 1500 Teilzeitkräfte bei den Heimspielen des HSV. Zahlen, die alarmieren, die aber die Profis nicht verrückt machen dürfen. „Am wichtigsten ist es, die Nerven zu behalten“, sagt van der Vaart. „Die Lage ist nun mal so, wie sie ist – und diese Lage muss man auf dem Feld annehmen.“

Ähnliches predigte auch Trainer Bert van Marwijk in den vergangenen Wochen: „Nach dem Spiel gegen Mainz habe ich noch in der Kabine gesagt, dass alles, was wir nun in den kommenden Wochen machen würden, nur auf das Spiel gegen Schalke abzielen darf.“ Der 61 Jahre alte Fußballlehrer ist erfahren genug, um die Bedeutung des ersten Spiels des Jahres für den gesamten Verlauf der Rückrunde richtig einzuordnen: „Es gibt sehr viel Druck rund um das Spiel, aber ich mag diesen Druck. Man braucht Druck, um Leistung zu bringen. Und ich erwarte, dass meine Spieler damit umgehen können.“

Die Zeit des Abtastens zwischen Neutrainer und Mannschaft ist längst vorbei. Der Niederländer spricht Fehler knallhart und ohne Rücksicht an, verliert dabei aber nie die Übersicht über das große Ganze. So musste sich Petr Jiracek nach der 2:3-Niederlage gegen Mainz heftige Kritik gefallen lassen, gleichzeitig erhielt der Tscheche aber die Chance, sich im Trainingslager von Abu Dhabi neu um einen Platz in der Startelf zu bewerben.

„Ich habe das Gefühl, dass die Spieler nach und nach immer besser verstehen, was ich von ihnen will. Wir haben uns immer mehr aneinander gewöhnt“, sagt van Marwijk, der sich aber nicht allein auf subjektive Eindrücke verlassen will. Den Fitnesszustand seiner Profis ließ er genauso kontrollieren wie das Einhalten der Sitzordnung im Flugzeug. Vorne, in der Businessclass, dürfen Trainer, Sportchef und die erfahrenen Spieler sitzen. Hinten, in der Economyclass, waren die Plätze für die Youngster und für die Nachwuchskräfte reserviert. Van Marwijk hasst es, bei seiner Herkulesaufgabe aus seiner Sicht unnötig Zeit zu verlieren. So war er auch am Donnerstag einer der Ersten, der sich heimlich, still und leise vom Sportfive-Neujahrsempfang verabschiedete, um direkt mit Assistent Roel Coumans zum Stadion zu fahren.

„Wenn hier einer nicht begriffen haben sollte, dass es nur gegen den Abstieg geht, dann gehört der nicht in die Bundesliga“, hatte van Marwijk bereits während des bestenfalls suboptimal gelaufenen Trainingslagers in Abu Dhabi angekündigt, „wir müssen jetzt so schnell wie möglich so viele Punkte holen, dass wir wieder atmen können.“

Um sein Ziel zu erreichen, stellte van Marwijk in der Winterpause alles und jeden auf den Prüfstand. Der Holländer erklärte Journalisten im Mannschaftshotel in Abu Dhabi zu „unerwünschten Personen“, er strich die obligatorische Übernachtung im Elysée vor dem Heimspiel (Arslan: „Eine gute Maßnahme“), und er ließ kräftig im Kader aufräumen. Der wenig geschätzte Artjoms Rudnevs durfte für gerade mal 300.000 Euro Leihgebühr nach Hannover, die noch weniger geschätzten Robert Tesche und Gojko Kacar mussten zurück zum Regionalligateam. Dafür wurden die vom Niederländer geforderten Verstärkungen (Ola John, Ouasim Bouy) verpflichtet. „Die ganze Vorbereitung ist im Prinzip nur auf dieses Spiel gegen Schalke abgestimmt“, sagt van Marwijk, der auf seinem Weg zum Klassenerhalt alles einkalkuliert hat. Bis auf eines : ein Scheitern der Mission.