Der HSV hat noch zu viele Baustellen in der Mannschaft, um ein Europapokal-Kandidat zu werden. Eine Analyse der Problemzonen.

Hamburg. Egal ob Sieg oder Niederlage - am Tag nach einem Bundesligaspiel ist in der Regel Regeneration angesagt: Auslaufen, Massage, vielleicht noch eine Videoanalyse oder ein Saunagang. So auch gestern. Nur die Reservisten des HSV mussten sich auf dem Trainingsplatz abmühen. Bis auf eine Ausnahme: Kapitän Heiko Westermann. Der Innenverteidiger absolvierte zwar nicht die gesamte Einheit, doch nur die Beine hochlegen, konnte er auch nicht. "Heiko wollte unbedingt ein paar Koordinationsübungen machen, er ist eben eine Maschine", sagte Trainer Thorsten Fink.

Offenbar die einzige "Maschine" bei den Hamburgern, die derzeit in fast jedem Spiel beständig ihre Leistung abruft. Schon die Partie in Fürth war trotz des 1:0-Sieges dürftige Kost, Tolgay Arslan sprach sogar von "Zweitligafußball". Ein stärkerer Gegner wie der VfB Stuttgart hat die Baustellen des HSV nun deutlich aufgezeigt. "Wir müssen demütig bleiben", sagte Fink. "Wir können zwar jeden Gegner schlagen, das hat der Sieg gegen Dortmund gezeigt. Aber offenbar auch gegen jeden Gegner verlieren. Derzeit gehören wir dahin, wo wir im Moment auch stehen - ins Mittelfeld der Liga." Das Abendblatt analysiert, warum dem so ist.

Taktisches Fehlverhalten: Das HSV-Team sollte laut Fink gegen Stuttgart wie auch in den Spielen zuvor "hoch stehen", wie es in der Fußballersprache heißt - das bedeutet, früh in der gegnerischen Hälfte anzugreifen, Fehler zu provozieren und dadurch selbst oft in Ballbesitz zu kommen. Das ging grundlegend schief. Der VfB hat trotz des Auswärtsspiels die angedachte Rolle der Hausherren übernommen und sich keineswegs in der Defensive eingeigelt. "Stuttgart hat anders verteidigt, als wir es in den Videoanalysen ihrer Spiele zuvor gesehen hatten", gibt Fink zu. Die passende Antwort darauf blieben die HSV-Profis schuldig. Daraus resultierend kamen sie in Zweikämpfen oft einen Schritt zu spät oder liefen grundsätzlich den einen oder anderen Schritt zu wenig. Die Datenbanken belegen das eindrucksvoll: Nur 44,7 Prozent der direkten Duelle entschied der HSV für sich. Auch in allen gemessenen Laufkategorien (Gesamtdistanz, Sprints, intensive Läufe) waren die Gäste dem HSV überlegen.

Abhängigkeit von der Zentrale: Wenn die ballsicheren, technisch starken Mittelfeldspieler einen schlechten Tag haben, kann die HSV-Mannschaft diese Schwäche nicht kompensieren. Rafael van der Vaart und Milan Badelj hatten in der vergangenen Woche aufgrund von Verletzungen nicht voll trainiert, beide absolvierten im Anschluss ihr schwächstes Spiel für den HSV. Das lässt Fink jedoch nicht als Ausrede gelten: "Nach 70 Minuten können sie müde sein, aber nicht schon nach zehn." Wo sich in Konkurrenz stehende Teams in solchen Fällen auf Einzelaktionen ihrer Stürmer oder auf eine Abwehr verlassen können, die kaum Torchancen zulässt, steht und fällt beim HSV der Erfolg mit den Ideen der Kreativzentrale. Und auch künftige Gegner werden genau hingeguckt haben, wie ein van der Vaart durch altbackene Manndeckung in Person von Stuttgarts William Kvist aus dem Spiel zu nehmen ist.

Breite des Kaders: Quantitativ hat der HSV auf allen Positionen mit Ausnahme des Angriffs mehr als genug Spieler. Doch die Qualität zwischen den ersten 14 und der zweiten Garde fällt stark ab. Fink fehlen die Alternativen, sollten entscheidende Akteure ausfallen oder nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte sein. Vor allem im zentralen Mittelfeld, aber auch auf den defensiven wie offensiven Außen. An Petr Jiracek beispielsweise, der auf der für ihn nicht optimalen Position im linken Mittelfeld zum Einsatz kam, da Ivo Ilicevic verletzt ausfiel, lief das Spiel komplett vorbei - er hatte gegen Stuttgart bis zu seiner Auswechslung in der Halbzeit gerade einmal zehn Ballkontakte. Immerhin scheint sich dort jetzt ein neuer Hoffnungsschimmer aufzutun: Maximilian Beister. Der U21-Nationalspieler zeigte nach seiner Einwechslung den bisher besten Auftritt im HSV-Trikot und dürfte gegen Augsburg am Freitagabend erste Wahl sein. "Er sorgte das erste Mal nach einer Einwechslung für Gefahr, hat sich zwischen den Linien zudem hervorragend bewegt", lobte Fink seinen Neuzugang, den er bisher vor allem wegen seines mangelnden Defensivverhaltens nicht in die Startelf beordert hatte.

Harmloser Angriff: Die wohl größte Baustelle des HSV. Artjoms Rudnevs war und ist weiter gesetzt, weil sich sonst niemand aufdrängt. Seine Leistung gegen Stuttgart kann wieder einmal mit dem Attribut "bemüht" versehen werden. Der Lette arbeitet viel, nur lässt der Ertrag zu wünschen übrig. Marcus Berg als einzige Alternative hat von Fink viele Chancen bekommen, doch keine genutzt. Die Regionalligastürmer Felix Brügmann, 19, und Manuel Farrona-Pulido, 19, sind talentiert, aber noch nicht profitauglich. Im Winter müsste trotz der finanziell angespannten Situation eigentlich nachgerüstet werden. Finks einzige Option bis dahin: den Südkoreaner Heung Min Son als einzige Spitze zu nominieren und die Position auf dem rechten Flügel beispielsweise mit Beister zu besetzen. Doch der Coach ist davon nicht überzeugt. "Ich denke, dass Son als Stoßstürmer nur bedingt geeignet ist. Dafür fehlt ihm noch die körperliche Robustheit." Bezeichnend: Gegen den VfB sollte Abwehrrecke Paul Scharner in den Schlussminuten für den Ausgleich sorgen, der zwar kopfballstark ist, das Toreschießen aber nicht erfunden hat.