In seinem zweiten HSV-Jahr soll Michael Mancienne mehr Verantwortung übernehmen. Angst hat der 24-Jährige nur vor Bären.

Hamburg. Nikola Vidovics Provokation im Vormittagstraining konnte Michael Mancienne unter keinen Umständen so stehen lassen. "Come on, Michael", schrie der kroatische Fitnesstrainer des HSV und hielt dem Engländer seine beiden Fäuste aufreizend entgegen. Mancienne tänzelte auf Vidovic zu, täuschte mit der linken Hand an, zog die rechte Schlaghand durch, duckte sich schnell weg und legte noch einmal mit einem linken Jab nach. "Das hätte der Rajkovic auch nicht besser gemacht", witzelte ein Zuschauer am Platzrand und spielte damit auf die Prügelei des Serben mit Heung Min Son vor zwei Wochen an. Aber im Gegensatz zu Kumpel Rajkovic, der seit dem Vorfall beim HSV zur unerwünschten Person erklärt wurde, durfte sich der Brite nach seiner blitzschnellen Rechts-links-Kombination im Zirkeltraining über ein Lob von Vidovic freuen: "Good Job, Michael."

Komplimente aus dem Trainerteam sind in den vergangenen Wochen für Mancienne nichts Neues mehr. "Michael ist ein absoluter Top-Profi", lobte unlängst Trainer Thorsten Fink, "ich wünsche mir von ihm, dass er in der kommenden Saison noch mehr Verantwortung übernimmt." Den gleichen Wunsch hatte er dem Innenverteidiger, der nach einem miserablen Saisonstart im vergangenen Jahr bereits als Fehleinkauf betitelt wurde, unmittelbar vor dem Saisonende auch in einem Vieraugengespräch mitgeteilt. "Der Trainer sagte mir, dass ich auf einem guten Weg bin, aber noch lauter und präsenter auf dem Platz sein muss", sagt Mancienne, "ich würde gerne ein echter Leader in diesem Team werden."

+++ Badelj-Wechsel perfekt - aber der HSV muss warten +++

Tatsächlich ist der 24-Jährige, der als einer der wenigen in der bisherigen Vorbereitung restlos überzeugen konnte, auf dem besten Weg, in der erneut verjüngten HSV-Mannschaft die Rolle eines Führungsspielers zu übernehmen. So wurde Mancienne neben Heiko Westermann, Dennis Aogo, René Adler und Marcell Jansen in Absprache mit Fink auch in den fünfköpfigen Mannschaftsrat gewählt, in dem er vor allem die Fraktion der übrig gebliebenen Chelsea-Profis vertreten soll. "Ich habe zu den Jungs einen ganz guten Draht", sagt der gebürtige Londoner, der bei Unstimmigkeiten wie bei Rajkovic in der Zukunft rechtzeitig vermitteln will: "Wenn ich mitbekomme, dass sich bei einem der Jungs von Chelsea so viel Frust aufgebaut hat wie bei Slobodan, dann würde ich beim nächsten Mal versuchen, das rechtzeitig anzusprechen."

Mehr sprechen muss Mancienne aber vor allem auf dem Platz. Das einstige Chelsea-Talent, das für 2,5 Millionen Euro zum HSV gewechselt ist, soll nach Heiko Westermanns Wechsel ins Mittelfeld die Rolle des Abwehrchefs übernehmen, dabei auch Kumpel Jeffrey Bruma, 20, anleiten. "Ich habe das Gefühl, dass wir als Duo immer besser werden", sagt der frühere Kapitän der U-21-Nationalmannschaft. Dass er aber auch nach einem Jahr die Kommandos auf Englisch statt auf Deutsch gibt, ist für Fink kein Problem: "Jeder kann Englisch. Ein Problem wäre, wenn er Französisch sprechen würde."

In den nächsten Tagen braucht Mancienne sein Fußballvokabular ohnehin nicht - weder auf Englisch noch auf Deutsch. Beim viertägigen Überlebenstraining in Schwedens Wildnis, das an diesem Sonnabend startet, spielt Fußball nur eine Nebenrolle. Viel mehr geht es darum, die Sprache der Natur zu sprechen, Aufgaben in der Gruppe zu lösen und ganz nebenbei natürlich auch Spaß zu haben. "Ich muss gestehen, dass ich kein Naturbursche bin", sagt Mancienne, "aber wenn wir uns alle auf das Abendteuer einlassen, kann es uns als Mannschaft zusammenschweißen." Skeptisch ist der selbst ernannte Stadtmensch lediglich, was Flora und Fauna in Schweden betrifft. "Marcus Berg hat uns erzählt, dass es in Schwedens Wäldern nur so vor Bären und Wölfen wimmelt", sagt Mancienne und betont noch einmal: "Bären und Wölfe!"

Sollte er aber überraschend keinen hungrigen Raubtieren in Schweden über den Weg laufen, wird sich der Sportfanatiker am Dienstagabend nach der Rückkehr nach Hamburg umgehend nach sämtlichen Olympia-Entscheidungen erkundigen, die er abseits der Zivilisation verpassen wird. "Es ist schon schade, dass ich in meiner Heimatstadt die Spiele nicht mitbekommen werde", sagt Mancienne, der vor allem dem 100-Meter-Finale, den Hürdenläufen und dem Basketballturnier entgegenfiebert. Von seiner Freundin, die noch immer in London lebt, hat er gehört, dass bereits jetzt der gesamte Verkehr der Innenstadt zusammengebrochen sein soll. "Aber Olympia gibt es ja nicht alle Tage", sagt Mancienne, dessen Eltern durch seinen Agenten noch ein paar Tickets ergattern konnten.

Das einzige Ticket, das ihn in den nächsten Wochen nachhaltig beschäftigen wird, ist das für einen Stammplatz. Nach gerade mal 16 Einsätzen in der Vorsaison will sich der sprunggewaltige Innenverteidiger in dieser Spielzeit unbedingt durchsetzen. Er werde sich schon durchboxen, sagt Mancienne, der seine Worte zumindest gestern Vormittag eindrucksvoll in die Tat umsetzte.