Drei Spieltage vor Schluss wird beim HSV Bilanz gezogen. Nach dem 0:3 in Stuttgart fällt das Fazit vernichtend aus. Fehlt Mannschaftsgeist?

Hamburg. Man kann Michael Oenning nun wirklich nicht vorwerfen, großartig nachtragend zu sein. Statt seinem ersten Impuls zu folgen, ein spontanes Straftraining nach der desaströsen 0:3-Pleite in Stuttgart am Ostersonntag anzusetzen, besann sich der HSV-Coach nach reiflichem Überlegen doch noch eines Besseren. "Ostern ist für die Familie da", sagte Oenning und gab seinen Spielern trotz des enttäuschenden Auftritts in Stuttgart bis zum heutigen Dienstag frei. Doch auch ohne nachtragend zu sein, wird der Fußballlehrer eines nicht machen: die Leistung seiner Profis so einfach vergessen.

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"Man lernt auch aus solchen Spielen", sagte Oenning, der heute einen Vertrag bis 2013 unterzeichnet, im Presseraum der Mercedes-Benz-Arena mit funkelnden Augen. Und was sich im ersten Moment so trivial anhörte, war im zweiten Moment durchaus als Drohung zu verstehen. Nach dem fast sicheren Aus aller europäischen Träume will der neue Cheftrainer des HSV in den verbleibenden Wochen der Saison überdenken, mit wem er in der kommenden Spielzeit planen kann. "Ich muss jetzt genau hinsehen, wer uns helfen und wer sich anbieten will", sagte Oenning, der drei Spieltage vor dem Ende der laufenden Saison in die schonungslose Analyse einsteigt. Sein vorläufiges Fazit nach inzwischen sechs Wochen im Amt: "Es liegt nicht an der individuellen Qualität der Spieler. Wir haben ein Mentalitätsproblem."

In nur zwei Sätzen fasste Oenning damit zusammen, woran der HSV bereits seit Langem krankt. Ohne echten Sportchef wurde in den vergangenen zwei Jahren ein Team aufgebaut, das zwar aus überdurchschnittlich veranlagten Einzelspielern besteht, allerdings nie zu einer echten Einheit auf dem Platz wurde. "Wir haben keine Ausgewogenheit im Kader", bemängelte Oenning, der ganz offen die Zusammenstellung der teuersten HSV-Mannschaft aller Zeiten kritisierte. "Es gibt viele schlechtere Mannschaften, die aber vor uns stehen. Die laufen eben mehr und haben einen größeren Willen als wir", sagt auch Kapitän Heiko Westermann, der - ähnlich wie Oenning - den sogenannten Mannschaftsgeist beim HSV infrage stellt: "Mir ist das Gefühl wichtig, dass jemand anderes da ist, der auch mal einen Fehler ausbügelt", sagt Westermann, "dieses Gefühl habe ich in Stuttgart vermisst."

So war es nicht das erste Mal in dieser Saison, dass der HSV bei seinem Auswärtsspiel im Schwabenland auf eine vermeintlich schlechter besetzte Mannschaft traf, von dieser aber nach allen Regeln der Kunst vorgeführt wurde. Besonders in der ersten halben Stunde hätte sich kein Hamburger beschweren können, wenn es statt 0:1 0:4 gestanden hätte. "Wenn man sich nicht wehrt, kann man keine Spiele gewinnen", analysierte Oenning, der seine Profis in der Mannschaftsbesprechung vor dem Spiel zu einem offensiven und aggressiven Spiel gegen den abstiegsbedrohten VfB ermutigt hatte. "Wir wollten die Verunsicherung der Stuttgarter ausnutzen", sagte Mladen Petric, der 90 Minuten später "absolut keine Erklärung" für die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis parat hatte.

So wird bereits drei Wochen vor Saisonende der schon seit Monaten angekündigte Umbruch eifrig vorangetrieben. "Die Gruppe wird sich verändern", sagte Oenning, der neben kosmetischen Operationen in der seit Wochen glücklosen Offensive besonders in der Defensive aktiv werden will: "Uns fehlen Verteidiger. Wir haben große Probleme im Defensivverbund." Vorrangig im Abwehrzentrum drängt Oenning auf Verstärkungen. Während die in die Jahre gekommenen Joris Mathijsen, 31, und Guy Demel, 29, als Streichkandidaten gelten, die verliehenen Alex Silva (São Paulo) und David Rozehnal (Lille) aber nicht zurückkommen sollen und Collin Benjamin ohnehin abgegeben wird, soll mindestens ein Innenverteidiger verpflichtet werden. "Wir müssen uns tief in die Augen schauen und die neue Saison einläuten", sagte Oenning.

Die fehlenden finanziellen Mittel erschweren die Planungen mindestens ebenso sehr wie die ungeklärte Zukunft einiger vermeintlicher Leistungsträger. "Ich weiß nicht, ob Mladen Petric nächste Saison noch bei uns ist und ob Zé Roberto weiter für uns spielen wird", gab Oenning zu. So soll in der kommenden Woche Petric-Berater Volker Struth zu einer Verhandlungsrunde nach Hamburg kommen, mit Zé Robertos Berater Christian Butscher laufen die Gespräche bereits seit einigen Wochen. "Ich mache mir sehr ernste Gedanken, wie wir eine neue Mannschaft aufbauen sollen", sagte Klubchef Carl Edgar Jarchow, der maßlos vom Auftreten seiner Mannschaft beim VfB enttäuscht war: "Ich bin völlig sprachlos."

Neben Verstärkungen in der Abwehr sucht Neu-Sportchef Frank Arnesen auch nach einem Torwart, der mit Jaroslav Drobny um die Nummer eins im Tor kämpfen soll. In der Offensive ist neben Petrics Verbleib auch die Zukunft Tunay Toruns, Eljero Elias, Jonathan Pitroipas und Paolo Guerreros fraglich, Ruud van Nistelrooy, Piotr Trochowski und Maxim Choupo-Moting werden den Verein definitiv verlassen. Eine Entscheidung über die mögliche Rückkehr der verliehenen Marcus Berg (Eindhoven) und Tolgay Arslan (Aachen) ist trotzdem noch nicht gefallen. "Die Spieler formulieren Ansprüche, diese müssen sie aber auch zeigen", droht Oenning seinen verbliebenen Profis ganz offen. Nette Tage mit der Familie, so viel steht fest, wird es so schnell jedenfalls nicht wieder geben.