Düsseldorf. Der Fußballnationalspieler spricht im Interview über die Vielfalt im DFB-Team und sein gesellschaftliches Engagement.

Am Freitag gab es Lob von höchster Stelle für Leon Goretzka: „Leon hat in dieser Woche einen sehr guten Eindruck gemacht“, sagte Bundestrainer Joachim Löw. Im EM-Qualifikationsspiel gegen Weißrussland an diesem Sonnabend (20.45 Uhr/RTL) in Mönchengladbach wird der 24-Jährige trotzdem zunächst auf der Bank sitzen. Ein Dauerzustand soll das aber nicht werden. Goretzka strebt in der Fußballnationalmannschaft eine Führungsrolle an.

Herr Goretzka, was bedeutet Ihnen Heimat?

Alles. Meine Eltern wohnen noch in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Das ist ein richtig schönes Haus mit genügend Platz. Es gab damals ein Fußballzimmer, eine Tischtennisplatte, einen Basketballkorb. Für ein Kind war das ein Paradies. Manchmal war eine komplette Jugendmannschaft des VfL Bochum zu Besuch. Diese schönen Erinnerungen kommen hoch, wenn ich zu Hause bin. Das ist ein durchweg positiver Ort.

Braucht ein prominenter Mensch wie Sie das, um dem Trubel zu entfliehen?

Ich habe glücklicherweise ein Umfeld, das mich auf den Teppich zurückholt. Andere leben das Profileben sicherlich exzessiver, das kann ich total verstehen, und es ist mir tausendmal lieber als eine vorgespielte Bodenständigkeit. Wenn man sich mal was gönnen oder unvernünftige Dinge machen möchte, muss man aber auch mit den möglichen Konsequenzen leben, wenn man in der Öffentlichkeit steht wie wir Profifußballer.

Sie haben sich mit dem Wechsel zum FC Bayern bewusst aus dem behüteten Umfeld herausbewegt. Der richtige Schritt?

Ich hatte eine tolle Jugend in Bochum und fünf wunderbare Jahre auf Schalke. Aber ich möchte das sportliche Maximum aus meiner Karriere herausholen. Ich will wissen, wo mein Limit ist. Deswegen war es logisch, den nächsten Schritt zu machen.

Wir haben das Gefühl, dass Sie sich auch als Typ sehr weiterentwickelt haben.

Es wäre ja auch schlimm, wenn Sie einen anderen Eindruck hätten. Ich habe in der vergangenen Zeit angefangen, meine Gedanken zu politischen und gesellschaftlichen Themen stärker zu äußern. Die Gedanken hatte ich auch vorher, aber habe sie meist nicht in der Form geteilt. Vielleicht entsteht dadurch dieser Eindruck.

Warum machen Sie das?

Die Gesellschaft – und gerade auch die jüngere Generation – wird politischer. Ich hatte bis vor ein paar Jahren erschreckend wenig Ahnung von politischen Themen. Das hat sich durch die Entwicklungen in diesem Land geändert. Wenn ich als Sportler so viel Gehör finde, kann ich das ja auch anders nutzen, als nur zu zeigen, was für ein tolles Auto ich fahre.

Denken Sie da an Dinge wie die Fridays-for-Future-Bewegung?

Das ist das womöglich prominenteste Beispiel. Aber auch in meinem Freundeskreis unterhalten wir uns viel öfter nicht nur über vermeintlich belanglose Themen, sondern beispielsweise auch über Politiktalks. Ich bin mit Sicherheit kein Aktivist, aber ich habe einen Standpunkt zu aktuellen gesellschaftlichen Themen.

Sie äußern sich gegen Rassismus, Homophobie sowie für Gleichberechtigung. Wie weit ist der Fußball bei solchen Themen?

Die Entwicklung ist positiv, aber es gibt immer wieder Negativerlebnisse, die ex­trem viel mediale Aufmerksamkeit erlangen. Da ist es nur konsequent, dass man Stellung bezieht, wenn man eine Meinung hat. Trotz allem bin ich sehr glücklich, in unserem Land leben zu dürfen: Wir haben eine Frau als Bundeskanzlerin, einen schwulen Bundesgesundheitsminister. Wir sollten die Leute nach ihren Leistungen und Einstellungen bewerten und nicht nach Geschlecht, Herkunft oder sexueller Orientierung.

Dennoch scheint sich der Fußball noch ein bisschen schwerzutun.

Natürlich. Und man kann nicht stolz darauf sein, dass es wenig Rassismus gibt. Das Ziel muss sein: kein Rassismus. Aber es gibt so viele Positivbeispiele. Schauen Sie sich etwa die Nationalmannschaft an: Das ist ein kunterbunter Haufen, viele Spieler haben einen Migrationshintergrund. Das spielt aber überhaupt keine Rolle, sie werden bei uns kein bisschen anders behandelt. Im Gegenteil: Diese Vielfalt bereichert unsere Mannschaft.

Würden Sie sich wünschen, dass andere Prominente sich ähnlich klar positionieren?

Ich kann verstehen, dass manche davor zurückschrecken oder einfach zurückhaltender agieren. Ich bekomme auch mal erschreckende Reaktionen. Deswegen kann man das von niemandem verlangen. Trotzdem möchte ich jedem Mut zusprechen, seine Stimme zu erheben. Wenn man mögliche Anfeindungen richtig einzuordnen weiß, kann man sehr gut damit umgehen.

Zuletzt gab es beim DFB Diskussionen, nachdem Emre Can und Ilkay Gündogan einen Instagram-Post mit „Gefällt mir“ markiert haben, auf dem türkische Spieler militärisch salutierten – eine Unterstützung für den Krieg in Syrien. Wie ist die Mannschaft damit umgegangen?

Mich hat unsere Reaktion sehr gefreut.

Dass die Aktion einerseits kritisiert, die beiden aber als Mitspieler unterstützt wurden?

Genau das – und dass wir als Nationalmannschaft direkt nach dem Estland-Spiel ein ganz klares Zeichen für Vielfalt und gegen Diskriminierung abgegeben haben. Dass es ein Fehler war, haben beide eingesehen und sich entschuldigt. Aber versetzen Sie sich mal hinein in Menschen, die Millionen Follower auf Instagram haben und ein Leben führen, in dem jeder Knopfdruck und jeder Doppelklick solche Reaktionen auslösen kann. Das ist nicht immer einfach. Die Erklärung der beiden war für mich plausibel, und ich habe sie akzeptiert. Und dann müssen wir als Mitspieler zeigen: Fehler können passieren, wir stehen trotzdem hinter euch. Ich behaupte,
Ilkay und Emre gut zu kennen, und ich bin mir sicher, dass sie Krieg keineswegs befürworten. Deswegen hat die Mannschaft toll reagiert.

Sie gehören zu den Jahrgängen 1995/96, die beim DFB in den Vordergrund drängen. Wie beschreiben Sie Ihre Generation?

Die meisten von uns haben außergewöhnlich viel Erfahrung für ihr Alter. In der Bundesliga, auch in der Champions League. Deswegen werden wir nicht als Frischlinge betrachtet, sondern voll akzeptiert. Wir sind bereit und wollen Gas geben. Und wir sind hungrig auf Erfolge. Unsere Erfolge mit den Jugendteams zeigen, dass wir das Potenzial haben.

Wie sehen Sie Ihre Rolle dabei?

Es ist eine meiner Stärken, Verantwortung zu übernehmen. Dazu muss ich mit Topleistung auf dem Platz vorangehen. Das hat bis jetzt gut geklappt. Und dann wird man, wenn es in Richtung Turnier geht, weiter in eine Führungsrolle hineinwachsen. Wir haben einige Spieler, die den Anspruch haben, eine solche Rolle zu übernehmen – und dazu gehöre ich.

Ihr Mitspieler Joshua Kimmich soll sogar SMS mit Tipps an die Mitspieler schicken. Haben Sie auch schon eine bekommen?

Mir kann er das auch jederzeit direkt sagen. Aber klar, er ist wie ich jemand, der sich Tag und Nacht mit Fußball beschäftigt und sich täglich verbessern möchte. Und das bedeutet auch, dass man anderen hilft. Wir teilen auch die Leidenschaft für Taktik und unterhalten uns entsprechend oft darüber.

Diskutieren Sie, wer wann wo stehen muss?

Klar, da geht es richtig ins Detail. Es ist wohl noch keine Mannschaftsbesprechung vergangen, die wir danach nicht noch mal nachbesprochen haben.

Gelingt die EM-Qualifikation?

Das ist natürlich unser Ziel und unsere Erwartung. Und wir sind so selbstbewusst zu sagen, dass wir beide Spiele gewinnen können und wollen.