Frankreich präsentiert sich über weite Strecken spielerisch schwach. Für Scholl war der Fußball des Gastgebers gar zum Wegschauen.

Die französischen Fans sangen schon in der Nachspielzeit die Marseillaise, die Spieler klatschten sich erleichtert und mit lachenden Gesichtern nach dem Abpfiff ab. Nach erneut zwei Geniestreichen in den Schlussminuten steht Frankreich bei der Heim-EM als erster Achtelfinalist fest. Die Mannschaft von Trainer Didier Deschamps siegte am Mittwoch in Marseille nach einer lange quälenden Leistung 2:0 (0:0) gegen Angstgegner Albanien.

Ausgerechnet der nach dem 2:1-Sieg gegen Rumänien wegen seiner enttäuschenden Leistung kritisierte und gegen Albanien für Kingsley Coman (Bayern München) eingewechselte Antoine Griezmann erlöste die Équipe tricolore mit der Führung in der 90. Minute. Auftaktheld Dimitri Payet sorgte mit der letzten Aktion in der fünfminütigen Nachspielzeit für das 2:0. Frankreich reicht zum Gruppensieg gegen die Schweiz am Sonntag in Lille bereits ein Unentschieden.

Scholl versöhnt sich erst nach dem Spiel mit Frankreichs Fußball

Mehmet Scholl
Mehmet Scholl © Imago

ARD-Experte Mehmet Scholl ging dennoch hart mit dem Gastgeber ins Gericht. Besonders die erste Hälfte war für den früheren Ballkünstler zum Wegschauen. „Das ist nicht Fußball und erst recht nicht schön anzusehen. Die Franzosen verstecken sich in ihrer taktischen Grundordnung“, kritisierte er schon zur Halbzeit. „Die Spieler haben kein Selbstbewusstsein und es fehlt einer, der die Kommandos gibt.“

Das sah offenbar auch Deschamps nicht viel anders und brachte den großen Strategen Paul Pogba nach dem Seitenwechsel. Für Scholl war seine Hereinnahme der Schlüssel zum Erfolg. „Ihm ist auch nicht alles geglückt, aber durch ihn hatten die Spieler einen, der das Heft in die Hand nimmt.“

Fortan agierten die Franzosen in ihren Offensivbemühungen viel variabler, was auch Scholl honorierte. „Sie haben ihre starre Taktik aufgeweicht und standen plötzlich bedingungslos zueinander.“ Der frühere Nationalspieler traut Frankreich mit der Einstellung aus der zweiten Halbzeit sogar den ganz großen Wurf zu. „Die Qualität ist da, um das Turnier bis zum Ende zu spielen.“

Pogba und Griezmann nur auf der Bank

Wie schon vor zwei Jahren bei der WM verordnete Deschamps den beiden Stars Pogba und Griezmann zunächst eine (Denk)-Pause. Mit Coman auf rechts und Anthony Martial auf links in der Dreierkette hinter Mittelstürmer Olivier Giroud begannen die Franzosen auch schwungvoller, ein frühes Tor gelang aber wie schon beim mühsamen 2:1-Auftakterfolg fünf Tage zuvor gegen die Rumänen nicht.

Ein Jahr nach dem blamablen 0:1 in Albanien schienen die Südosteuropäer die Équipe tricolore mit ihrer Spielweise erneut zu zermürben. Coman mühte sich, Martial ebenfall. Viel kam aber nicht dabei heraus. Im ausverkauften Stadion, in dem vor dem Anpfiff noch 134 Dezibel gemessen worden waren, wurde es merklich leiser. Zumal die Albaner in der 24. Minute auch noch eine Riesenchance hatten: Armando Sadiku vepasste aber um Zentimeter den Ball.

Der WM-Viertelfinalist agierte zunehmend hilflos gegen die vom italienischen Trainer Gianni De Biasi perfekt eingestellten Albaner. Deschamps wirkte ratlos. Sein Team strahlte nach einem vielversprechenden Start überhaupt keine Souveränität mehr aus.

Griezmann erlöst eine ganze Nation

In der zweiten Halbzeit nahm das Spiel an Fahrt auf: Frankreichs Bacary Sagna lenkt den Ball an den eigenen Pfosten, auf der Gegenseite schoss Pogba knapp über die Latte. Auch Giroud (69.) traf den Pfosten. Die Möglichkeiten häuften sich, Albanien wurde müde und in den letzten 20 Minuten zunehmend in den eigenen Strafraum zurückgedrängt. Frankreich drückte, Laurent Koscielny und erneut Pogba vergaben weitere Chancen zum Lucky Punch.

Staatspräsident François Hollande und die meisten der Zuschauer in der südfranzösischen Mittelmeermetropole warteten geduldig – und wurde am Ende durch Griezmanns Kopfball erlöst. Payet, der beim 2:1 gegen Rumänien den Siegtreffer erzielt hatte, legte dann nach. Der Rest war Jubel auf dem Platz und den Rängen.

Die Statistik

Frankreich: Lloris/Tottenham Hotspur (29 Jahre/77 Länderspiele) - Sagna/Manchester City (33/59), Rami/FC Sevilla (30/30), Koscielny/FC Arsenal (30/31), Evra/Juventus Turin (35/75) - Kanté/Leicester City (25/6), Matuidi/Paris St. Germain (29/46) - Coman/Bayern München (20/7) ab 68. Griezmann/Atletico Madrid (25/29), Payet/West Ham United (29/21), Martial/Manchester United (20/11) ab 46. Pogba/Juventus Turin (23/33) - Giroud/FC Arsenal (29/51) ab 77. Gignac/UANL Tigres (30/28). - Trainer Deschamps

Albanien: Berisha/Lazio Rom (27 Jahre/36 Länderspiele) - Hysaj/SSC Neapel (22/21), Ajeti/Frosinone Calcio (22/10) ab 85. Veseli/FC Lugano (23/3), Mavraj/1. FC Köln (30/28), Agolli/Qarabag Agdam (33/63) - Lila/PAS Giannina (30/58) ab 71. Minute Roshi/HNK Rijeka (25/33), Abrashi/SC Freiburg (26/20), Kukeli/FC Zürich (32/17) ab 74. Taulant Xhaka/FC Basel (25/13), Memushaj/Delfino Pescara (29/14), Lenjani/FC Nantes (26/20) - Sadiku/FC Vaduz (25/21). - Trainer: De Biasi

Schiedsrichter: William Collum (Schottland)

Tore: 1:0 Griezmann (90.), 2:0 Payet (90.+6)

Zuschauer: 67.354 (ausverkauft)

Gelbe Karten: Kanté - Kukeli (2), Abrashi

Torschüsse: 20:7

Ecken: 6:4

Ballbesitz: 58:42 %

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