München. Zehn Jahre nach dem 1:4 war das 4:1 gegen Italien nicht nur eine historische Revanche. Das richtige Signal zum richtigen Zeitpunkt.
Dass an jenem Abend Geschichte geschrieben werden sollte, war den meisten Protagonisten nach dem Schlusspfiff noch gar nicht so klar. 4:1 stand nach 90 Minuten auf der Anzeigetafel. Italien gegen Deutschland. Ein Klassiker. Mit einem Ergebnis, das in die Fußballhistorie einging. „Die Planung steht, ist in sich geschlossen und überzeugend“, sagte der Nationaltrainer – und verabschiedete sich.
Ziemlich genau zehn Jahre ist diese Episode aus den Annalen des deutschen Fußballs nun her. 1:4 gegen Italien – und der verantwortliche Trainer damals: Jürgen Klinsmann. Als dieser trotz der höchsten Niederlage aller Zeiten gegen die Squadra Azzurra tatsächlich in die kalifornische Wahlheimat entschweben wollte, war es um den nationalen Frieden in Deutschland geschehen. Einige Hinterbänkler aus dem Bundestag wollten das delikate Thema sogar auf die Tagesordnung setzen.
Klassiker: Deutschland gegen Italien
Nun sagt man allgemein, dass sich Geschichte nicht wiederholen würde. Und man hat recht. Richtig ist vielmehr, dass sich im Fußball immer alles ausgleicht. Und wer nicht viel von dieser Phrasenschwein-Floskel hält, der war wohl am Dienstagabend nicht in der Münchner Allianz-Arena. Wieder lautete das Ergebnis 4:1. Wieder war es der höchste Sieg der Geschichte, zumindest der Nachkriegsgeschichte. Doch diesmal war es Germania, das über den Beinahe-Nachbarn jenseits der Alpen triumphierte. „Kann man mal machen“, antwortete Jonas Hector, der Torschütze zum zwischenzeitlichen 3:0, als er gefragt wurde, ob er sich der historischen Bedeutung bewusst sei.
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Kann man also mal machen. Und Deutschland machte. Genau in dem Moment, als die Nation zwar keinen Bundestagsausschuss forderte, sich aber ernste Gedanken um das Projekt EM-Titel in Frankreich machte.
Baustellen der DFB-Elf bleiben
Der leichtfüßige Auftritt gegen die völlig unitalienisch spielenden Italiener war so gesehen das richtige Signal zum richtigen Zeitpunkt. Oder besser gesagt: der lang erhoffte Schlusspunkt einer Phase, die nach dem WM-Titel nur wenige echte Höhepunkte der deutschen Mannschaft bereithielt. Die DFB-Mannschaft hatte gegen Argentinien, Polen, die USA, Irland, Frankreich und England verloren, sich zwischendurch sogar gegen die Hobbyfußballer aus Gibraltar schwergetan. Doch dann zog Toni Kroos ab, Kopfballungeheuer Mario Götze vergaß seinen Bayern-Kummer, Julian Draxler, Götze und Hector erfanden die Leichtigkeit des Seins neu, und Mesut Özil hatte so viel Kraft gesammelt, dass auch er aus elf Metern traf. Kurzum: Der Weltmeister spielte wieder, wie es sich für einen Weltmeister gehörte.
„Man hat gesehen, dass wir richtig gierig waren gegen die Italiener, gegen die wir die letzten 40 Jahre nicht mehr gewonnen haben“, sagte Thomas Müller, der sich nur um 19 Jahre verrechnet hatte. Denn tatsächlich ist es 21 Jahre her, dass zuletzt eine deutsche eine italienische Mannschaft besiegen konnte.
Die Pressestimmen aus Italien zum Spiel
Die historische Dimension war für Joachim Löw, der vor zehn Jahren als Klinsmanns Assistent schon dabei war, natürlich nur zweitrangig. „Ich war schon ganz zufrieden“, tiefstapelte der Bundestrainer, der sich in Wahrheit mehr über die Lernfähigkeit seiner Spieler als über einen Eintrag in die Geschichtsbücher freute. Erst am Vortag hatte er „La Mannschaft“ ein variables 3-4-3-System vorgestellt, das in der Defensive zu einer 5-4-1-Taktik mutierte. „Das neue System hat ganz gut geklappt“, gab Ex-HSV-Talent Shkodran Mustafi brav zu Protokoll.
So wie die Protagonisten von 2006 den Weltuntergang nicht heraufbeschwören wollten, so wollten die Protagonisten von 2016 die Bodenhaftung nicht verlieren. Trotz des historischen 4:1-Siegs gegen Italien gibt es sechs Wochen vor der Nominierung des EM-Kaders noch immer genügend Baustellen. Insofern durfte man Toni Kroos einen zweiten Treffer des Abends attestieren, als er auf die Frage nach der Bedeutung für die Geschichtsbücher ruhig und sachlich antwortete: „Wir haben gut gespielt. Nicht mehr.“