Der Bundestrainer muss nach Alternativen suchen. Allerdings sind auf der Sechser-Position sowohl Bastian Schweinsteiger als auch Ilkay Gündogan ebenfalls von Verletzungen betroffen.

Mailand. Pünktlich zur Mittagszeit am Sonntag trabte Deutschlands Fußballelite im Football Centre The Hive nahe London auf den natürlich englisch gepflegten Rasen. Laufen, Stretchen, ein paar Worte hier, ein paar Sätze dort. Das Betriebsklima schien beim ausnahmsweise öffentlichen Training der Nationalmannschaft nicht weit über den in den Zeitungen vorausgesagten neun Grad bei bedecktem Himmel zu liegen. Und der bedrückende Eindruck zwei Tage vor dem Prestigeduell gegen England (Dienstag, 21 Uhr/ARD) im Wembleystadion täuschte nicht – ganz im Gegenteil.

„Kreuzband- und Innenbandriss bei Sami Khedira“ – mit dieser nüchternen Überschrift hatte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) die schlimmsten Befürchtungen am Vortag kurz nach dem Frühstück auf seiner Homepage bestätigt. Es war ein echter Donnerschlag, der sich am Morgen nach dem Länderspiel gegen Italien (1:1) in ganz Europa binnen Sekunden verbreitete. „Kopf hoch. Wir erwarten dich bald zurück, deutscher Panzer“, twitterte Spaniens Xabi Alonso, während Portugals Cristiano Ronaldo den Blick nach vorne wagte: „Du bist ein Kämpfer, wir warten auf deine Rückkehr. Die Weltmeisterschaft wartet auf dich.“

Es waren nett gemeinte Worte, die da von überall her im Internet die Runde machten. Doch wirklich realistisch, das wussten wohl auch die meisten, waren die Genesungswünsche nicht. Noch am gleichen Tag wurde Khedira in der Augsburger Hessingpark-Clinic in Anwesenheit von DFB-Arzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt und zwei Mannschaftsärzten Real Madrids von Ulrich Boenisch operiert. Die übliche Pause nach einer derart schweren Verletzung wird mit sechs bis acht Monaten angegeben.

Dann ist man möglicherweise aus ärztlicher Sicht wieder gesund, aus fußballerischer Sicht aber noch lange nicht fit. Die WM in Brasilien, die in sieben Monaten am 12. Juni beginnt, ist in Wahrheit für Khedira nicht nur wenig realistisch, sie ist nahezu utopisch.

Selbst das Ballack-Aus 2010 konnte Löw besser verkraften

„Für uns war die Diagnose natürlich ein Genickschlag. Das ist ganz bitter“, sagte Bundestrainer Joachim Löw, der zwar grundsätzlich positiv denken wollte („Der Sami ist ja ein Kämpfer“), seinen Schock aber nicht überspielen konnte: „Ich kann mich auch nicht erinnern, dass es in den vergangenen Jahren bei uns eine derart schwerwiegende Verletzung bei den Qualifikationsspielen oder den Turnieren gegeben hat.“ Selbst Michael Ballacks Aus vor der Weltmeisterschaft in Südafrika, das der ARD einen „Brennpunkt“ nach der „Tagesschau“ wert war, hat Löw nicht derart heftige Kopfschmerzen bereitet.

Dabei ist es fast schon tragisch, dass es ausgerechnet der damals 23 Jahre alte Khedira war, der unmittelbar von Ballacks Ausfall profitierte und sich mit einer überragenden Weltmeisterschaft an der Seite Bastian Schweinsteigers im zentral-defensiven Mittelfeld zum Weltstar katapultierte. Doch anders als damals hat Löw aktuell keinen zweiten Khedira in der Hinterhand, der den echten auch nur im Ansatz ersetzen könnte. Denn neben dem Madrilenen bleiben auch Schweinsteiger (Fußoperation) und Ilkay Gündogan, der vor seinen Dauerproblemen mit seinem Rücken ein ernsthafter Anwärter für die Schaltzentrale der deutschen Mannschaft war, äußerst unsichere Kandidaten im Hinblick auf die WM. Löw selbst hatte noch vor dem Spiel gegen Italien bekräftigt, dass für ihn bereits die Grenze erreicht sei, wenn ein Spieler nicht zumindest ein paar Monate vor der WM ein gewisses Fitnessniveau erreichen könnte. Für Khedira ist das ausgeschlossen, für Schweinsteiger und Gündogan zumindest ambitioniert.

„Bastians OP ist super verlaufen“

Doch wer bleibt dann überhaupt noch übrig für die aus Löws Sicht wichtigste Position der deutschen Mannschaft? Gegen England dürfte sich Toni Kroos den Job als offensiver Part mit Lars oder Sven Bender in der Defensive teilen. Doch während der Münchner Kroos wohl auch in Brasilien im Herzstück des Mittelfelds gesetzt sein dürfte, gelten die Bender-Zwillinge eher als überaus solide Ein-Spiele-Vertreter, nicht aber als Turnierlösungen.

So bleiben Löw nur noch zwei Möglichkeiten im defensiven Mittelfeld: Kapitän Philipp Lahm, den er eigentlich auf der rechten Abwehrseite belassen will, der aber Woche für Woche als Mittelfeldhirn der Bayern überzeugt. Oder aber das Prinzip Hoffnung, dass eben doch Schweinsteiger oder Gündogan rechtzeitig fit werden. „Es ist nach wie vor mein Plan, dass Philipp rechts spielt“, sagte Löw nach der Ankunft in England, und machte so deutlich, dass er sich für das Prinzip Hoffnung entscheidet: „Bastians OP ist super verlaufen und ich bin mir auch sicher, dass Ilkay zurückkommt. Mit beiden kann man in der Rückrunde wieder planen.“

Dass dies trotz aller optimistischen Zukunftsprognosen kaum für Khedira gilt, macht ein Blick in die jüngere Vergangenheit deutlich. So ist es nicht mal ein halbes Jahr her, dass Nationalspieler Holger Badstuber während seines Rehatrainings einen zweiten Kreuzbandriss erlitt, nachdem er zu verbissen um ein zeitnahes Comeback gekämpft hatte. Dass Badstubers Operateur ebenfalls der Augsburger Kniespezialist Ulrich Boenisch war, ist dabei nicht unbedingt das beste Omen. Aber gute Nachrichten rund um die Nationalmannschaft waren am Wochenende ohnehin eher spärlich gesät.