Seit dem EM-Aus gegen Italien und dem 4:4 gegen Schweden ist das Vertrauen in den Bundestrainer nicht mehr grenzenlos. Die wichtige Balance zwischen Offensive und Defensive ist noch nicht gefunden.

Stockholm. Nein, es ließ sich nicht vermeiden, dass vor dem abschließenden WM-Qualifikationsspiel an diesem Dienstag gegen Schweden (20.45 Uhr/ZDF), dem Länderspiel Nummer 879 in der Geschichte der deutschen Fußballnationalmannschaft, noch einmal die Frage nach Spiel 868 kam. „Nein, das ist keine Revanche“, entgegnete Joachim Löw, ohne auch nur den Anflug einer Emotion zu zeigen. Das Spiel sei lange abgehakt.

Gemeint war – natürlich – dieses schon legendäre 4:4 am 16. Oktober 2012 im Berliner Olympiastadion, als die Nationalelf im Qualifikationsspiel gegen Schweden 60 Minuten lang atemberaubenden Fußball bot und nach Toren von Miroslav Klose (8. und 15. Minute), Per Mertesacker (39.) und Mesut Özil (56.) anscheinend uneinholbar mit 4:0 führte. Was niemand für möglich gehalten hätte und zuvor noch nie passiert war: Nach dem 4:1 von Zlatan Ibrahimovic (62.) kippte das Spiel. Mikael Lustig (64.), Johan Elmander (76.) und Rasmus Elm (90.+3) trafen noch zum 4:4.

„Manchmal müssen Dinge richtig wehtun, damit sie nicht mehr passieren“, bilanzierte der Bundestrainer Ende Dezember und gestand, dass es ein Horror sei, Spiele wie diese noch einmal anschauen zu müssen. „Man kann nie garantieren, dass so was nicht mehr eintritt. Aber solche Spiele können zu einem Lerneffekt führen, dass alle Warnlampen angehen, man sagt: Stopp, das müssen wir anders lösen, das wollen wir mit aller Gewalt verhindern!“

Am Montag bestätigte Löw nach der Landung in Stockholm, wie intensiv er und seine Spieler sich mit der Analyse dieses so besonderen Spiels beschäftigt haben. „Wir sind diese Begegnung häufiger durchgegangen, die Abwehr und auch die gesamte Mannschaft: Was war schlecht, was muss besser werden? Die Mannschaft hat insgesamt daraus gelernt.“

Gegen Schweden, das noch einen Punkt benötigt, um sicher als eines von vier Teams in den Play-offs zur WM gesetzt zu sein, wird Löw zum 99. Mal als Hauptverantwortlicher an der Linie stehen. Unter seiner Führung hat sich die deutsche Auswahl in der Weltspitze etabliert, sie arbeitet nicht nur Fußball, sondern sie zelebriert das Ballspiel und begeistert die Massen mit ihrem Offensivdrang. Und doch dürfen zwei Spiele in keiner Analyse über die Amtszeit Löws fehlen: das 1:2 im EM-Halbfinale gegen Italien, als seine taktischen Überlegungen nicht aufgingen – und ebenjenes 4:4, als Löw hilflos mit ansah, wie sein Team in sich zusammenfiel.

Nicht mehr unantastbar

Das Vertrauen in die Fähigkeiten des zuvor unantastbaren 53-Jährigen hat seitdem an Festigkeit verloren. Die Kernfrage lautet: Halten die Coaching-Qualitäten des Mannes, der sich auf die Länderspiele so akribisch und detailversessen vorbereitet, mit dem inzwischen so hohen Niveau seiner Spieler mit? Ob das Urteil gerecht ist, erscheint zumindest fraglich. Klar ist, dass Löw beim Hinspiel gegen Schweden in der zweiten Hälfte nur Personalwechsel vornahm (Götze und Podolski für Müller und Reus), nicht aber in die Taktik eingriff oder eine Auswechslung nutzte, um Zeit zu gewinnen und gezielte Anweisungen zu geben. Festgestellt werden muss aber auch, dass Führungsspieler wie Per Mertesacker, Philipp Lahm oder Bastian Schweinsteiger auf dem Platz versagten, als es darum ging, die Ordnung wiederherzustellen.

„Wir wissen, dass wir uns defensiv weiter verbessern wollen“, sagte Löw am Montag. „Das ist ein wichtiger Baustein, es zu schaffen, defensiv als Mannschaft eine Waffe zu sein, daran werden wir arbeiten.“ Worte, die der DFB-Coach schon vor Monaten in ähnlicher Form geäußert hat. Die richtige Balance zwischen Offensiv- und Defensivspiel scheinen weder er noch die Spieler bereits gefunden zu haben, wie auch die Partie gegen die mit bescheidenen Mitteln ausgestatteten Iren zeigte.

Das Problem für Löw: Bis zum Beginn der WM-Vorbereitung hat er kaum noch eine Chance, an diesen Defiziten zu arbeiten. Nach den Spielen gegen Italien (15. November) und in England (19., sofern den Briten die direkte Qualifikation gelingt) steht gegen Chile am 5. März nur noch ein Test an.

Abgesehen davon sind diese Spiele, auch wenn es sich mit den Italienern und England um große Namen handelt, nur schmückendes Beiwerk vor der WM-Endrunde in Brasilien, wenn Löw in der Pflicht steht, diesen mit so viel Talent ausgestatteten Kader zu Titelehren zu führen. Nur daran wird sich der Bundestrainer messen lassen müssen. Eine Voraussetzung wird dabei sein, der Gefahr der Selbstüberschätzung entgegenzuwirken, die sich in Tendenzen nicht nur beim 4:4 gegen Schweden zeigte: Wer sich an seiner Spielweise zu sehr berauscht, droht zu sehr mit dem Herzen zu spielen.

Dass seine bevorstehende Vertragsverlängerung bis 2016, die nach einem abschließenden Gespräch mit dem Deutschen Fußball-Bund noch in dieser Woche verkündet werden könnte, bei einem Misserfolg in Südamerika nicht viel wert wäre, weiß Löw selbst: „Ich bin ja nicht blauäugig“, sagte er in Stockholm erstmals öffentlich.

Wen das in Schweden herzlich wenig interessiert, ist Max Kruse. Entspannt durfte der Reinbeker auf dem Podium den Worten Löws lauschen. „Bei diesem 4:4 im Jahr 2012 war ich gerade zwei Monate in Freiburg und hatte zuvor in der Zweiten Liga gespielt, da war die Nationalmannschaft ziemlich weit weg“, musste der Angreifer schmunzeln, der schon gegen Irland auf dem Sprung in die Startelf stand. Nach der Sperre von Sami Khedira ist nun aber der Weg endgültig frei, da Mesut Özil zusammen mit Bastian Schweinsteiger und Toni Kroos hinter Kruse das Spiel gestalten soll. Womöglich wird es weitere Änderungen geben, die Löw aber noch nicht verraten wollte.

Egal wie das DFB-Team auch spielen wird, sicher scheint nur, dass es nicht wieder ein sensationell-erschütterndes 4:4-Remis gibt. Wer anderer Meinung ist, könnte mit dieser Meinung ziemlich viel Geld verdienen. Wettanbieter bwin zahlt in diesem Fall das 251-Fache des Einsatzes aus.