Sportwissenschaftler Wolfgang Schöllhorn über Fehler der Bundesliga, Erfolge in Mainz und Barcelona und das Modell des „differenziellen Lernens“. Schöllhorn kennt Alternativen zum oftmals stupiden Bundesliga-Training

Hamburg . Immer wieder dieselbe Bewegung: So üben viele Sportler, auch in der Bundesliga. Dabei würde unser Körper viel mehr aus Abweichungen lernen. Der Sportwissenschaftler und Hirnforscher Professor Wolfgang Schöllhorn hat das differenzielle Lernen entwickelt und kann damit Erfolge bei Zehnkämpfern, bei Mainz 05 und beim FC Barcelona vorweisen. In Hasloh entsteht ein Leistungszentrum.

Hamburger Abendblatt: Herr Professor Schöllhorn, was kann man sich unter dem differenziellen Lernen vorstellen?

Wolfgang Schöllhorn: Ganz vereinfacht geht es um das Lernen an Differenzen. Was viele kennen, ist, dass wir aus der Differenz von linkem und rechtem Auge die Entfernung bestimmen. Gleiches gilt für den Schall, der kurz nacheinander auf das linke und rechte Ohr trifft. Aus der zeitlichen Differenz ermittelt unser Gehirn so etwas wie Orientierung zur Schallquelle. Zwischen zwei aufeinanderfolgenden Ereignissen liegt eine Differenz, und diese Differenz liefert zusätzliche Informationen, um zu lernen. Eine identische Wiederholung enthält keine Information.

Sie sagen also, man lernt nicht durch ständige Wiederholung, sondern durch eine zweite unterschiedliche Bewegung. Und je größer diese ist, desto größer der Lerneffekt?

Schöllhorn: Ja, aus dem Vergleich der beiden Bewegungen lernt der Mensch. Selbst bei Wiederholungen macht man ja Unterschiede und nie exakt die gleiche Bewegung noch einmal. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen schon immer aus Differenzen gelernt haben. Die waren nur zu klein, um effektiv zu sein. Ich habe sie einfach nur groß gemacht. Nicht Wiederholungen bringen die Leistungssteigerung, sondern bewusste Abweichungen.

Heißt das auch, dass Fehler beim Training ausdrücklich erlaubt sind?

Schöllhorn: Es gibt keine Fehler mehr. Bei uns sind das Schwankungen. Es findet kein Urteil statt, was richtig oder falsch ist. Sondern die Schwankung zeigt uns, wo noch Reservoir ist.

Wie sind Sie darauf gekommen?

Schöllhorn: Das war eine Mischung aus meiner eigenen Erfahrung als Athlet und als Trainer, in Verbindung mit der Physik und dem Studium der Neurophysiologie. Als Trainer habe ich lange meinen Athleten immer nur ihre Fehler vorgehalten. Dann bin ich überredet worden, noch mal an einem Wettkampf teilzunehmen. Ich war besser als früher, als ich deutscher Meister war und 14 Mal in der Woche trainiert habe. Da habe ich gedacht, irgendetwas stimmt hier nicht. Ich mache lauter Fehler, trainiere weniger und komme weiter. Deshalb fing ich an, nach Gründen für die Leistungssteigerung zu suchen.

Was haben Sie gefunden?

Schöllhorn: Die Erkenntnis, dass unser Hirn nur aus Differenzen lernt. Der neue, variable Teil einer Bewegung ist in erster Linie für den Lernfortschritt verantwortlich. Kinder lernen so schnell und so viel, weil sie in allem, was sie tun, neue Anteile haben. Bewältigt ein Hirn neue Aufgaben erfolgreich, schüttet es verstärkt Dopamin aus, was wiederum das Lernen erleichtert.

Für welche Sportarten gilt das?

Schöllhorn: Im Prinzip für alle. Wir hatten ein Schlüsselerlebnis mit dem Zehnkämpfer Frank Busemann. Er sollte in 60 Minuten 60 Stöße mit der Kugel machen, mit jeweils unterschiedlichen Bewegungen. Mal ein Bein gebeugt, mal mit hoher Schulter, mal mit gespreizten Fingern. Nach 60 Versuchen sollte er einen Stoß ohne eine Bewegungsanleitung ausführen. Er steigerte seine persönliche Bestleistung um einen Meter.

Was war Ihrer Meinung nach der Grund dafür?

Schöllhorn: Aus der Vielzahl der unterschiedlichen Bewegungen hat sich sein Gehirn die perfekte Mischung für den Moment herausgesucht. Weil das Gehirn ein selbst organisiertes System ist. Es ist ein selbstlernendes System, keine externe Lehre, wo alles von außen eingetrichtert wird.

Aber genau so wird ja noch überwiegend trainiert. Auch im Fußball mit ständigen Schussübungen, Flankenläufen oder dem Einüben von Standardsituationen. Wird da seit Jahrzehnten falsch trainiert?

Schöllhorn: Ich sage nicht falsch. Ich sage, es wird nicht optimal trainiert, und deshalb wird zu viel Zeit verschwendet. Die Brasilianer leben uns das doch vor. Die haben mit die schlechtesten Trainingsbedingungen in ihrem Land und bringen die besten Spieler heraus. Wenn die schon als Kinder ständig im Sand und mit Büchsen statt mit runden Bällen spielen, machen sie ja genau das, was ich differenzielles Lernen nenne. Sie müssen sich immer wieder auf neue Situationen einstellen und können diese dann im Spiel viel schneller adaptieren als ein Fußballer, der nur stupide Wiederholungen einstudiert hat.

Haben Sie das differenzielle Lernen auch beim FC Barcelona eingeführt?

Schöllhorn: Das ist zu viel der Ehre. Aber man kann sagen, dass der FC Barcelona spätestens seit 2001 große Teile des differenziellen Lernens in seinem Training hat.

Wie kam es dazu?

Schöllhorn: Ich habe vor mehr als zehn Jahren Barcelonas Konditionstrainer Paco Seirulo kennengelernt. Er trainierte die Fußballer, Handballer und Basketballer. Wir saßen bei einer Diskussionsrunde nebeneinander, kamen ins Gespräch und haben viel über differenzielles Training diskutiert. Er war schon in dieser Richtung unterwegs und ist durch mich bestätigt worden. Studierende aus Barcelona berichten mir, dass es in großen Teilen übernommen wurde. Man kann sagen, diese Art zu trainieren ist dort auf fruchtbaren Boden gefallen. Er hat es im Nachwuchsbereich angewendet. Und Pep Guardiola war einer seiner Schüler.

Haben Sie Ihre Trainingsmethode schon in der Bundesliga angewandt?

Schöllhorn: Bei Eintracht Frankfurt habe ich Anfang der 1990er Jahre das Konditionstraining gemacht. Spieler wie Andi Möller und Anthony Yeboah sind um einiges schneller geworden. Auch Thomas Tuchel in Mainz trainiert so, er nennt das nur Dopamin-Training.

Es heißt, Tuchels Training unter der Woche fordere die Spieler geistig so sehr, dass ihnen das Spiel am Wochenende wie eine Erholung vorkommt.

Schöllhorn: Das Fordernde sind bei ihm die kombiniert koordinativ-taktischen Übungen. Da sind die Spieler vom Kopf her nach einer halben Stunde platt. Wenn sie das aber zwei, drei Monate machen, ist das für sie irgendwann ein ganz normales Aufwärmprogramm.

Wann kommen Sie zum HSV?

Schöllhorn: Wenn die Anfrage kommt. Aber im Ernst: Wir fangen jetzt mit dem differenziellen Training in Hasloh an. Dort entsteht das erste bundesweite Fußball-Leistungszentrum für differenzielles Fußballtraining, initiiert von dem früheren Bundesliga-Profi Dietmar Hirsch und Gregor Strebel, der beim VfL Wolfsburg im Trainerstab von Felix Magath gearbeitet hat. Der frühere HSV-Profi Peter Hidien hat als Ligaobmann in Hasloh die Kooperation angeschoben.

Was sagen Sie Ihren Kritikern, die von diesen neuen Trainingsmethoden nicht sehr viel halten?

Schöllhorn: Die Kritik ist haltlos. Ich halte es da in Anlehnung an ein Zitat von Bruce Lee mit dem Satz: „Wenn du kritisiert wirst, musst du irgendetwas richtig machen, denn man greift nur denjenigen an, der den Ball hat.“ Mit einem Augenzwinkern sage ich: Nachdem Mainz 05 beraten wurde, erzielte die Mannschaft mit Platz fünf im Jahr 2010 ihre beste Platzierung.

Macht das Training mehr Spaß?

Schöllhorn: Definitiv. Ich habe nichts gegen Medizinbälle im Training, wenn sie variabel eingesetzt werden. Und wenn es nicht nur um Gehorsam und Schmerztoleranz geht.