Nach dem denkwürdigen Spiel zwischen Deutschland und Schweden überschlug sich die internationale Presse. „Größter Kracher der Geschichte”.

Berlin. Seine finale Aktion an diesem Abend hatte Thomas Müller sich sorgsam zurechtgelegt. Der Nationalspieler mochte nicht nach Antworten suchen und Erklärungen stammeln wie mancher seiner Kollegen. Also lautete der letzte von Müller an diesem historischen Abend von Berlin gesprochene Satz: „Was soll ich dazu denn sagen?“ Zu diesem Spiel, jenem 4:4 (3:0) der deutschen Fußball-Nationalmannschaft im WM-Qualifikationsspiel gegen Schweden.

+++ Kommentar zu Deutschland gegen Schweden +++

+++ Der Spielverlauf im Liveticker +++

Einem Spiel, das scheinbar übergangslos alles in sich vereinte, was in den vergangenen zwölf Monaten von der Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) zu sehen gewesen ist: rauschhafte Momente in der Offensive ebenso wie anfängerhaftes Agieren in der Defensive. Heraus kam ein Spielverlauf, wie ihn nie zuvor eine deutsche Nationalmannschaft in der nun 104 Jahre währenden Länderspielgeschichte gezeigt hat. „Es ist etwas Historisches passiert. Ich habe zuvor noch nie von so einem Ereignis gehört“, staunte Schwedens Trainer Erik Hamren.

Nie waren vier Tore Vorsprung, die Miroslav Klose (8., 15. Minute) mit seinen Länderspieltoren 66 und 67, Per Mertesacker (39.) und Mesut Özil (56.) herausgeschossen hatten, noch verspielt worden - bis zu diesem letzten Pflichtspiel des Jahres 2012, dem vierten auf dem Weg zur WM 2014 in Brasilien, das in der laufenden Bewerbung den ersten auch zählbaren Schönheitsfleck in der bis dahin immerhin numerisch makellosen Bilanz des Teams von Joachim Löw produzierte.

Von „Totenstille“ in der Kabine berichtete der Bundestrainer anschließend. Die Sprachlosigkeit bezog sich nicht auf 60 anfängliche Minuten, die Löw „überragend, was die Organisation und die Ordnung betrifft“, fand. Sondern auf den kläglichen Rest, erst den Doppelschlag der Schweden durch Zlatan Ibrahimovic (62.) und Mikael Lustig (65.), dann den Anschlusstreffer durch Johan Elmander (76.) und schließlich den Ausgleich von Rasmus Elm in der dritten Minute der Nachspielzeit. All das machte Löw als „eine Sache des Kopfes“ aus: „In den letzten 30 Minuten haben wir viel falsch gemacht. Wir hatten nicht mehr diese Sicherheit. Es war eine große Unruhe im Spiel.“

Deutsches Team anfangs „fantastisch“

Als „symptomatisch“ für die spätestens nach dem dritten Gegentreffer um sich greifende allgemeine Verunsicherung nannte der Bundestrainer den Freistoß für sein Team in der Nachspielzeit nahe dem schwedischen Strafraum. Statt in Ballbesitz die 4:3-Führung über die letzten Sekunden zu bringen, wurde die Kugel zittrig bis zu Manuel Neuer zurückbefördert. Hilflos kloppte dieser Torwart den Ball wieder weit nach vorn, wo die Schweden ihn gern in Empfang nahmen – um zum finalen Stoß anzusetzen.

An dieser Szene machte auch Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff seine nächtliche Forderung nach „Cleverness und Kaltschnäuzigkeit“ fest. Doch schon viel früher, nach dem ersten, aber spätestens nach dem zweiten Gegentor würden Top-Mannschaften den Stecker, der ihnen kurzzeitig gezogen worden sei, „wieder rein stecken“. Nicht so diese deutsche Mannschaft, da „fehlt was“, sagte Bierhoff und sprach wohl am ehesten von einem Mentalitätsproblem auch der erfahrensten Spieler im Team, das selbst durch Training „schwer“ zu beheben sei. „Es ist ein Lernspiel für uns, aus dem wir unsere Lehren ziehen werden“, versprach Löw später.

Zwar war da auch diese erste Phase des Spiels: „Wir haben 60 Minuten den besten Fußball gespielt, seitdem ich dabei bin“, urteilte der 97-malige Nationalspieler Bastian Schweinsteiger. „Fantastisch“, fand es auch Nebenmann Toni Kroos, wie anfangs die deutsche Angriffsmaschinerie um das zauberhafte Duo Özil und Marco Reus in einem für die Schweden viel zu hohen Tempo lief und beim verzückten Berliner Publikum reihenweise „Ah-“ und „Oh“-Rufe hervorrief.

Nur wenige Tore in der deutschen Länderspielgeschichte sind so monumental herausgespielt worden wie das 2:0 durch Klose, als der Ball über sieben Stationen mit jeweils nur einem Kontakt gespielt wurde. Es war die Phase, als die Versöhnung mit den durch das Halbfinal-Aus gegen Italien so vergrätzten Fans endgültig vollzogen schien. Aber da nun mal der letzte Eindruck haften bleibt, „müssen und werden wir den Finger in die Wunde legen“, sagte Bierhoff: „Wir können nach so einem Spielverlauf nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, das sei schon nach dem glücklichen 2:1-Sieg in Österreich nicht geschehen, und erst recht dieses Spiel müsse man „knallhart analysieren“.

Für Ibrahimovic wird Deutschland Weltmeister 2014

Dass dazu auch ein Bundestrainer Löw gehört, der zum wiederholten Male in einer entscheidenden Phase eines wichtigen Spiels wenig Einfluss von außen nahm, nehmen konnte, mochte Bierhoff nicht thematisieren. Er sehe die vorgenommenen Wechsel, Götze für Müller und Podolski für Reus, „nicht problematisch“, sagte er. Doch nutzte Löw in der Nachspielzeit nicht auch sein drittes Wechselrecht, was einen Zeitgewinn bedeutet hätte. Stattdessen musste Kapitän Philipp Lahm eine Gelbe Karte wegen Spielverzögerung auf sich nehmen. Löw, der auch bei den entscheidenden Niederlagen in den vergangenen drei Turnieren erstarrte, scheint wirklich kein Wettkampf-Trainer zu sein.

Es gehörte aber auch zur allgemeinen Rhetorik nach diesem verrückten Spiel, dass in diesem keiner der Beteiligten einen lang anhaltenden Rückschlag sehen mochte. Löw ebenso wenig wie Schweinsteiger oder Kroos. Im Gegenteil, Abwehrspieler Mertesacker, der sein im 84. Länderspiel erzieltes zweites Tor letztlich als „Randnotiz“ abtat, räsonierte mit Blick auf das Vergangene über „eine Phase nach der EM, in der wir uns wieder finden müssen“. Dazu gehöre auch, „dass wir negative Erlebnisse hinnehmen, um daraus zu lernen“. Angesichts zweier Spiele gegen Kasachstan im März, blieb der Blick auch in diesem schweren Moment auf die Teilnahme an der WM 2014 gerichtet. Von einer „wichtigen Lehre vor einem so großen Turnier“ sprach Mertesacker und sagte anklagend: „Wer so überlegen ist und wer so hoch führt wie wir, aber dann so zurückschaltet - dann reicht es auf internationalem Niveau nicht zum Sieg, auch nicht gegen Schweden.“

Ausgerechnet deren Superstar Zlatan Ibrahimovic spendete aber gütig in eine deutsche Fernsehkamera etwas Trost. Was er und seine Kollegen gegen Deutschland geleistet hätten, sei „fantastisch“ gewesen; umso mehr, da sie es gegen „die beste Mannschaft der Welt“ schafften, säuselte Ibrahimovic und versicherte, dass jene nach seiner Meinung beste Mannschaft der Welt „bei der WM 2014 in Brasilien auch Weltmeister werden wird“.

Internationale Pressestimmen

Schweden

„Áftonbladet“: „Schweden braucht kein neues Nationalstadion in Stockholm. Wir haben schon eins in Berlin, wo wir von der Bahre wieder auferstanden sind. Das war wie ein Traum.“

„Expressen“: „Nie zuvor haben wir eine solche Berg- und Talfahrt erlebt. Nie zuvor war Schweden so erdrückt, erniedrigt und verzweifelt wie in der ersten Halbzeit. Was dabei wie ein unerreichbarer Wunschtraum schien, wurde nach 90 Minuten Wirklichkeit.“

„Svenska Dagbladet“: „Sagenhaft, Schweden. Die Urkraft bei der Auferstehung war unfassbar. Das 4:4 im Berliner Olympiastadion gehört jetzt zu unseren Sportklassikern. Eigentlich war das Spiel ja nach 15 Minuten vorbei.“

„Dagens Nyheter“: „Das war der größte Kracher der schwedischen Sportgeschichte. Die Deutschen sind eigentlich die falsche Mannschaft, um einen 4:0-Vorsprung herzugeben. Aber Schweden war diesmal die falsche Mannschaft zur Aufgabe. Danke für alles!“

England

„Daily Mirror“: „Die Deutschen haben sich am Schwedenhappen verschluckt. Den Schweden gelang eines der großartigsten Resultate im internationalen Fußball überhaupt, als sie nach 0:4-Rückstand gegen Deutschland noch zurückkamen und sich ein Unentschieden verdienten.“

„The Independent“: „Deutschland verspielt Vier-Tore-Vorsprung - Ibrahimovic inspiriert Schweden zu einem Comeback. (...) Nachdem man Irland am Freitag 6:1 besiegt hatte, schien Joachim Löws Elf vor heimischem Publikum bereit für den nächsten stolzen Abend. Aber Miroslav Kloses Kunststück, bis auf einen Treffer auf Gerd Müllers ewigen Torrekord aufzuschließen, wurde von einer Kapitulation seiner Mannschaft überschattet.“

„The Daily Telegraph“: „Deutschland hat in einer atemberaubenden Manier seine 100-prozentige Punkte-Ausbeute in der WM-Qualifikation eingebüßt. Schweden hat in Berlin ein bemerkenswertes Comeback nach 0:4 dargeboten.“

Spanien

„El País“: „Schweden zerlegt Deutschland.“

„El Mundo“: „Schweden von der Demütigung zum Heldentum: Ibrahimovic stachelte seine Leute zu einer sozialen Revolte an, die sogar die Proteste gegen die Besuche von Angela Merkel in Euro-Krisenstaaten in den Schatten stellte.“

„Marca“: „Aus einem 4:0 wird ein 4:4 – einfach unglaublich! Berlin erlebt eine der erstaunlichsten Aufholjagden der letzten Jahrzehnte.“

„As“: „Acht Tore in einem Spiel kommen schon ziemlich selten vor. Aber in 30 Minuten aus einem 0:4 ein 4:4 zu machen, ist extrem ungewöhnlich. Dies gelang den Schweden in Berlin.“

Italien

„La Gazzetta dello Sport“: „30 Alptraum-Minuten für Deutschland gegen Schweden. Was für eine Aufholjagd! Angela Merkel verging das Lächeln. Nach Ibrahimovics Tor stand nur noch ein Team auf dem Platz.“

„Corriere dello Sport“: „Unglaublich: Schweden holt gegen Deutschland ein 0:4 auf. Klose allein reicht nicht.“

„Tuttosport“: „Was für eine Show!“

„La Repubblica“: „Unglaublich diese Schweden!“

Österreich

„Österreich“: Neue Turbulenzen vorprogrammiert. Was für ein Drama in Berlin: Deutschland verspielte gegen Schweden eine 4:0-Führung - am Ende hieß es 4:4 in einem irren Match... Abwehr war katastrophal. Leichtsinn – Fehler luden die Schweden zum Toreschießen ein.“

„Kronen Zeitung“: „4:4-Schock nach 4:0! Historische 'Schweden-Bomben' (Anm. d. Red.: so werden in Österreich Schokoküsse genannt) in der letzten halben Stunde trafen Deutschland ins Herz - Löw und seine Spieler fanden keine Erklärung.“

„Kurier“: „Unglaubliche Wende – Deutschland verspielt ein 4:0. Schweden war einem Debakel nahe, jubelte nach vier Toren in der letzten halben Stunde in Berlin aber über ein 4:4 und einen Punkt.“

Schweiz

„Neue Zürcher Zeitung“: „Fassungslosigkeit in Berlin. Berlin hat am Dienstag eine verrückte Fußballnacht erlebt.“

„Blick.ch“. „Presse spottet über DFB-Elf: 'War das dämlich!'. Wie unglaublich das Spiel war, zeigt die Tatsache, dass Schweden exakt viermal aufs Tor schoss und jedes Mal traf. Goalie Manuel Neuer hielt tatsächlich keinen einzigen Ball!“

„Tages-Anzeiger“: „Furiose schwedische Aufholjagd – Vom 0:4 zum 4:4 in einer halben Stunde: Schweden bot in Deutschland ein wahres Spektakel.“

Portugal

„Público“: „In Berlin sind die Fans von der Euphorie in die Depression gestürzt. Zwei Tore von Klose und ein Treffer von Mertesacker ließen vor der Pause einen ruhigen Abend erwarten. Özils Tor gleich zu Beginn der zweiten Hälfte schien den Sieg dann endgültig besiegelt zu haben. Aber da war ja noch Ibrahimovic. Er traf und weckte Schweden zu einer schwindelerregenden letzten halben Stunde auf.“

Deutschland: Neuer - Boateng, Mertesacker, Badstuber, Lahm - Kroos, Schweinsteiger - Müller (67. Müller), Özil, Reus (88. Podolski) - Klose.

Schweden: Isaksson - Lustig, Granqvist, J. Olsson, Safari - Wernbloom (46. Källström), Elm - Larsson (78. Sana), Ibrahimovic, Holmen (46. Kacaniklic) - Elmander.

Tore: 1:0 Klose (8.), 2:0 Klose (15.), 3:0 Mertesacker (39.), 4:0 Özil (55.), 4:1 Ibrahimovic (62.), 4:2 Lustig (64.), 4:3 Elmander (76.), 4:4 Elm (90.+3).

Gelb: Reus (2), Lahm, Schweinsteiger / Isaksson.

Schiedsrichter: Pedro Proenca (Portugal).

Zuschauer: 72 369 (ausverkauft).