Vor dem Spiel gegen Belgien am Dienstag werden die Qualitäten von Manuel Neuer neu entdeckt. Dabei macht der Torhüter alles wie immer.

Hamburg/Düsseldorf. Diese Diskussion hatte Bundestrainer Joachim Löw gerade noch gefehlt. Da hatte die DFB-Mannschaft das neunte EM-Qualifikationsspiel in Folge gewonnen und die Türkei nach allen Regeln der Kunst beherrscht, als plötzlich die Rolle des Spielmachers der Nationalmannschaft zum beherrschenden Thema des Wochenendes wurde. So waren sich alle vermeintlichen Experten einig, dass weder Mario Götze noch Mesut Özil diese spielentscheidende Rolle derzeit am besten für die DFB-Elf ausfüllt, sondern kein Geringerer als Manuel Neuer. Der baumlange Torhüter hatte alle drei Treffer am Freitagabend in Istanbul indirekt eingeleitet, was die "Süddeutschen Zeitung" dazu veranlasste, Neuer als "modernen Günter Netzer des deutschen Fußballs" zu bezeichnen.

So gesehen war es ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, als Löw noch in Istanbul versuchte, die aufkommende Diskussion umgehend zu beenden. "Die Vorlage zum 2:0 war eher ein Befreiungsschlag", relativierte der Nationaltrainer. Eine Art Zufallsprodukt? Ein Glückspass? Was für ein Affront!

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Neuer selbst ließen die durchschaubaren Erläuterungen seines Trainers kalt. Der Torhüter, der irgendwie immer das Richtige zum richtigen Zeitpunkt macht, versuchte gar nicht erst, seinem in die Bredouille geratenen Vorgesetzten zur Seite zu springen. Dabei wäre es doch so einfach gewesen, sich irgendeine mehr oder weniger glaubwürdige Erklärung aus den Fingern zu saugen, warum sein Abwurf vor dem 1:0 ganz zufällig zentimetergenau Thomas Müller vor die Füße fiel und sein Abschlag mit dem Außenrist vor dem 2:0 Götze in etwa so erreichte, als ob ein Scharfschütze per Zielfernrohr den Dortmunder anvisiert hätte. Nein, Neuer verweigerte Löw die verbale Unterstützung und bediente sich in seinen Erklärungen ganz einfach der Wahrheit. Er habe Müller bereits vor dem 1:0 darauf hingewiesen, dass er ihn bald so gekonnt einsetzen werde, "da ich bemerkt habe, dass der türkische Linksverteidiger immer sehr weit aufrückt". Und auch der Pass vor dem 2:0 sei kein Befreiungsschuss gewesen, sondern viel mehr "ein gezielter Pass auf Götze", den er aus dem Augenwinkel an der Mittellinie flanieren sehen habe. Überrascht zeigte sich Neuer lediglich über die Überraschung aller anderen, da er doch eigentlich schon immer genauso gespielt habe.

"Diese Abwürfe und Abschläge übt man regelmäßig im Training", sagte der 25-Jährige, der zudem daran erinnerte, dass er bereits im Sportleistungskurs in der Oberstufe sämtliche Wurfdisziplinen aus der Leichtathletik kennengelernt habe. Damit sich die gewünschte Weite auch noch mit der benötigten Präzision paart, habe er später als Fußballprofi schon mal Minitore auf Höhe der Mittellinie aufgestellt, um eben derart zielgenaue Abwürfe einzustudieren.

Bei so schlüssigen Erklärungen gab dann auch Löw irgendwann im Laufe des Wochenendes seine Strategie des Understatements auf. Ja, Neuer habe zumindest zwei Tore eingeleitet, gab der Bundestrainer dann doch zu, und ja, natürlich habe sein Keeper diese langen Bälle ganz bewusst gespielt. "Das ist sein Spiel. Das beherrscht er wie kaum ein anderer", sagte Löw, der aber trotzdem im letzten Qualifikationsspiel gegen Belgien am Dienstag Özil als Spielmacher im zentralen Mittelfeld aufbieten will. Nicht, weil der Deutsch-Türke unbedingt der bessere Passgeber ist. Sondern aus dem simplen Grund, weil Neuers Stärken dann eben doch besser ein paar Positionen hinter dem zentralen Mittelfeld zur Geltung kommen.

Die Entscheidung des Bundestrainers ist also nachvollziehbar, schließlich machte das Spiel in der Türkei einmal mehr deutlich, dass Torvorbereiter Neuer in erster Linie ein ganz famoser Torverhinderer ist. Sein beeindruckender Reflex nach vier Minuten gegen seinen früheren Teamkollegen Hamit Altintop, der die für ihn unerfreuliche Rettungsaktion als "sensationell" bezeichnete, erinnerte den einen oder anderen Vergesslichen daran, dass Neuer auch nach seinem Wechsel zum FC Bayern noch immer ein ziemlich talentierter Keeper ist. Mehr als 1000 Minuten ist der Torhüter in München nun in Pflichtspielen ohne Gegentor und meistens erinnerte lediglich sein Name auf dem Spielberichtsbogen daran, dass Neuer tatsächlich auf dem Feld stand, so unterbeschäftigt wirkte er.

"Manuel ist einfach der beste Torwart der Welt", stellte Mannschaftskollege Mario Gomez nun ein für allemal fest: "Er weiß das, wir wissen das. Und er bestätigt das immer wieder." Daran ändert mit Sicherheit auch nicht, dass Neuers Krakenarme in der Nationalelf zuletzt auch immer mindestens einen Treffer nicht verhindern konnten. Acht Spiele in Folge schaffte die Nationalmannschaft nun nicht mehr das, was dem FC Bayern in dieser Saison Woche für Woche gelingt: zu null zu spielen. Verantwortlich dafür ist aber weniger Neuer, sondern die zuletzt öfter mal wackelige Abwehr vor ihm. "Uns fehlte manchmal die nötige Konsequenz, auch beim Umschalten", gab Löw "kleinere Probleme" in der Defensive zu.

Zu ernst sollte man vor dem Spiel gegen Belgien die Abwehrproblemchen allerdings nicht nehmen, schließlich wartet hinter der Viererkette immer noch "die Steigerung von Titan", wie Bayern Münchens Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge Neuer bezeichnete. Und ein zehnter Sieg im zehnten Spiel wäre für den früheren Schalker die verdiente Belohnung für eine durch und durch gelungene Qualifikation. "Nun wollen wir auch den Rekord. Das wäre ein perfekter Abschluss. Natürlich werde ich versuchen, auch mal in der Nationalelf ohne Gegentor zu bleiben", sagte Neuer, der das Wochenende mit selbst gemachter Pasta und Pizza bei Mama Marita, Papa Peter und Bruder Marcel in Gelsenkirchen ausklingen ließ. Die Frage über den zukünftigen Spielmacher der Nationalelf soll unbestätigten Informationen zur Folge nicht am Familientisch diskutiert worden sein - sehr zur Freude Löws.