Unangepasst, unkalkulierbar, unerschrocken - Nadine Angerer, die etwas andere Torfrau. Sonntag startet sie mit Deutschland in die WM.

Berlin. Nadine Angerer langweilt sich. Seit Minuten schon. Zwar ist sie höflich genug, ein Gähnen zu unterdrücken. Doch die Nationaltorhüterin verdeutlicht ihren Gemütszustand auf ihre Weise - mit ehrlichen Worten. Zu wenig Überraschendes sei dabei, sagt sie. Unter all den Fragen, die der 32-Jährigen in den vergangenen Wochen vor dem WM-Start am Sonntag (18 Uhr, ARD) gegen Kanada gestellt wurden, da gab es wenige, die sie herausforderten. Unzählige müssen es gewesen sein, schließlich ist die deutsche Nummer eins, in der Bundesliga für den 1. FFC Frankfurt aktiv, als Gesprächspartnerin unter Journalisten derzeit äußerst beliebt.

Das ist zum einen ihrer Karriere geschuldet, mit ihren vielen herausragenden Erfolgen. Die WM 2007 in China etwa, als sie ohne Gegentor blieb und als beste Torhüterin des Turniers ausgezeichnet wurde. Ausschlaggebender für ihre Popularität jedoch ist ihre Art. Unangepasst, unkalkulierbar, unerschrocken - das sind Attribute, die meist im Einklang mit ihrem Namen fallen. Mal ist sie die "Frau mit der Mütze", dann wieder das "St. Pauli der Nationalmannschaft". Eine impulsive Mischung aus Berliner Schnauze und bayerischer Zünftigkeit. Die niemandem gefallen will und gerade dadurch gefällt. Worüber Nadine Angerer, die Vertraute nur "Natze" rufen, nach wie vor leicht irritiert ist. "Eigentlich bin ich total unspannend", sagt sie. Das ist bescheiden - und deutlich untertrieben.

Eine Frau, die mit einem vier Meter hohen Feuerwehrbus durch die Hauptstadt kurvt, von einer Reise über den afrikanischen Kontinent träumt und im vergangenen Jahr mit größter Selbstverständlichkeit ihre Bisexualität verkündete, die muss Spannendes zu erzählen haben. Wenn sie denn entsprechend gefragt wird. "Ich bin ein offener Typ, habe nichts zu verbergen", sagt sie. Das gilt im Privatleben wie auf dem Platz. Sie redet gern, nur nach Niederlagen, da brauche sie einen Moment, um zu verdauen. Dann zieht sie sich zurück, zu engen Freunden, um sich abzulenken. "Die haben nichts mit Fußball zu tun. Die fragen mich sogar noch, was Abseits ist. Gerade das tut gut."

Überhaupt ist sie ungern allein, braucht Gesellschaft um sich herum. Vielleicht, sagt sie, ist das ihren italienischen Wurzeln geschuldet. Die Familie ihres Vaters kommt aus der Nähe von Mailand. Ihre Lebenslust, ja, die habe etwas Südländisches. Nur lautstarke Konflikte lägen ihr nicht. "Ich bin kein Streithammel. Harmonie ist für mich sehr wichtig." Besonders innerhalb der Mannschaft. Sie sei nun mal eine Teamspielerin, zu "1000 Prozent".

Das schließt Meinungsverschiedenheiten ebenso wenig aus wie Rivalitäten und Konkurrenzsituationen. "Verschiedene Charaktere machen ein gutes Team aus", sagt sie. Das könne man doch an der Mannschaft sehen, mit ihren jungen Wilden um Alexandra Popp, die sich geräuschlos in das Gefüge eingegliedert haben, den Etablierten respektvoll, aber nicht devot begegnen. Lediglich was die musikalische Kabinenbeschallung vor dem Spiel angeht, herrschen teaminterne Disharmonien. "Meine Ska-Musik kam nicht an", sagt sie mit gespieltem Entsetzen. "Den DJ-Part müssen andere übernehmen."

Nadine Angerer kennt durchaus das Gefühl, kämpfen zu müssen. Für wesentlichere Dinge als um die Macht am CD-Player. 1996 debütierte sie in der Nationalmannschaft, musste sich allerdings lange mit der Ersatzbank begnügen. Silke Rottenberg war gesetzt, bis zu einer Verletzung im Jahr 2007, als sich Nadine Angerer beweisen konnte. Eine Geduldsprobe, die sich auszahlen sollte. Heute gehört sie zu den besten Fußballspielerinnen weltweit, wird von Sponsoren gern gebucht. Finanziell, sagt sie, gehe es ihr mittlerweile gut. Im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrheit der Bundesligaspielerinnen muss sie sich um ihre Existenz keine Sorgen machen. "Ich habe keine Angst vor der Situation, wenn ich mal nicht mehr im Tor stehen sollte." Nach Kurzausflügen als Veranstaltungstechnikerin und Kameraassistentin absolvierte sie eine Umschulung zur Physiotherapeutin. Möglicherweise bleibt sie später bei diesem Beruf, möglicherweise macht sie etwas anderes. Das könne man doch nicht vorhersehen, und sie wolle es erst gar nicht. "Ich bin keine Planerin."

Genaue Karrierevorstellungen hat Nadine Angerer dennoch. Viermalige DFB-Pokalsiegerin wird man nicht ohne Disziplin, Ehrgeiz, Willensstärke. So sind es Aussagen wie diese, mit feinen Brüchen und Widersprüchen, die Ratlosigkeit erzeugen. Und Interesse wecken. Auch wenn sie selbst diesen Umstand nur schwer verstehen kann.