Oliver Bierhoff, Teammanager der Fußball-Nationalmannschaft, über Disziplin, Spieler-Knigge und die Versuchung Bundesliga.

München. Der Teammanager der Nationalmannschaft empfängt zum Gespräch über den Dächern der Stadt. Im Konferenzraum der Münchner Mercedes-Niederlassung - die Marke mit dem Stern ist Sponsor des DFB - spricht Oliver Bierhoff, 42, im Interview mit dem Abendblatt vor allem über seine Art, die Mannschaft zu führen. Er verrät, dass jeder Spieler 50 Euro Tagesspesen erhält, erklärt aber auch, warum er aus Sicht der Fans die WM-Vergabe nach Katar unglücklich findet. Und dann wäre da noch die Option Bundesliga ...

Hamburger Abendblatt:

Herr Bierhoff, haben Sie schon mal überlegt, ob Sie nicht auf Berater-Basis bei Ihrem ehemaligem Verein, dem HSV, anheuern sollen?

Oliver Bierhoff:

Wie kommen Sie denn darauf?

Wir glauben, dass der HSV jemanden wie Sie bitter nötig hätte. Seit Wochen gibt es nur schlechte Laune und Krisenstimmung. Die Nationalmannschaft dagegen ist seit dem Sommermärchen 2006 gefühlt eine einzige Erfolgsgeschichte. Das Team siegt und siegt, spielt begeisternden Fußball und ist ein Sympathieträger. Was machen Sie besser als der HSV?

Bierhoff:

Zunächst danke ich für das Lob, bin mir aber auch sicher, dass im Verein genügend Profis an Bord sind, die das Steuer in der Hand haben und entsprechend rumreißen können. Zumal auch ein Vergleich mit der Bundesliga schwierig ist. Wir haben das große Glück, dass für fast alle Spieler die Nationalmannschaft das größte Ziel ist und sie stets top motiviert sind. Zudem können wir auch auf Spieler verzichten, wenn wir merken, es passt nicht - ohne Rücksicht auf Verträge und Transfersummen.

Trotzdem war die Nationalmannschaft früher immer wieder für einen Skandal gut. Wir denken an die Stinkefinger-Affäre um Stefan Effenberg bei der WM 1994. Oder den ewigen Knatsch um die Anwesenheit von Spielerfrauen.

Bierhoff:

Und jetzt haben wir, den Confed-Cup eingerechnet, vier große Turniere ohne einen sogenannten Skandal gespielt. Darauf sind wir schon stolz. Geschafft haben wir dies durch viele kleine Mosaiksteine, die sich dann zu einem großen Ganzen zusammengefügt haben.

Ein Beispiel bitte.

Bierhoff:

Als wir 2004 angefangen haben, war es üblich, dass die Spieler ihr schmutziges Trikot einfach zusammengeknüllt auf den Boden geworfen haben. Der Zeugwart musste die Wäsche mühsam trennen. Für mich ist dies mangelnder Respekt gegenüber einem Mitglied unseres Betreuerstabes. Heute legt jeder seine verschwitzten Trainingssachen geordnet auf den Boden. In der Kabine herrscht Ordnung. Wir haben auch etabliert, dass die Spieler nicht mehr, wie noch zu meiner Zeit, direkt nach dem Spiel abreisen. Es gibt ein Abendessen, bei dem der Delegationschef die Medaillen verteilt. Zum Ritual gehört auch, dass ein Spieler nach seinem ersten Länderspiel eine Rede hält. Respekt, Integration, Charakter, Leistung - das fordern wir auch außerhalb des Spielfeldes.

Und was sagt der Spieler bei seiner Rede?

Bierhoff:

Das ist natürlich individuell. Aber sinngemäß: Er betont die Freude und Ehre, die es für ihn bedeutet, in dem Kreis dabei zu sein und er gerne wiederkommen würde. Es ist interessant zu sehen, wie nervös die Spieler sind, die eigentlich gewohnt sind, vor einem Millionen-Publikum Interviews zu geben. Aber da muss jeder durch. Schon beim Medaillenverteilen rufen die Kollegen: Re-de, Re-de, Re-de. Das stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl.

Haben Sie die Regeln schriftlich fixiert?

Bierhoff:

Ja, am Anfang haben wir unsere Regeln in einem kleinen Büchlein zusammengefasst. Ganz wichtig war uns vor allem Professionalität, der gegenseitige Respekt und gutes Benehmen und Höflichkeit. Es ist in Ordnung, wenn ein Spieler mal eine Anfrage ablehnt. Aber er muss dies höflich tun.

Gibt es dieses Buch noch?

Bierhoff:

Nein, inzwischen haben alle Spieler diese Regeln verinnerlicht.

Auch wegen angemessener Geldstrafen?

Bierhoff:

Nein, das haben wir am Anfang diskutiert, aber wieder verworfen. Wir setzen lieber auf Einzelgespräche.

Oder Sie werfen den Spieler gleich raus. Wie Kevin Kuranyi, der während eines Länderspiels im Oktober 2008 gegen Russland aus Verärgerung über seine Nichtnominierung einfach nach Hause fuhr. Löw kündigte damals an, dass er nie wieder in der Nationalmannschaft spielen würde, solange er Bundestrainer sei. Warum sind Sie so wahnsinnig streng?

Bierhoff:

Jogi hat eine konsequente Entscheidung getroffen, die einige überraschte. Auch ich hatte nicht unbedingt damit gerechnet, es war aber klar, dass wir das Vergehen nicht ignorieren konnten. Ich habe Kevin später dreimal auf die Mailbox gesprochen, aber er hatte nicht ein einziges Mal zurückgerufen. Dennoch können Sie sicher sein, dass wir einen Weg gefunden hätten, Kevin wieder zurückzuholen, wenn es sportlich gepasst hätte.

So war es ein beeindruckendes Signal an die Mannschaft.

Bierhoff:

Wichtig ist bei jeder disziplinarischen Aktion, dass sie nicht populistisch ist. Die Nummer 25 im Kader wegen schlechter Trainingsleistungen zurück in die Kabine zu schicken, ist billig. Das durchschauen die Spieler sofort. Wenn sie sich dagegen mal mit einem Führungsspieler anlegen, ist das anders. Michael Ballack etwa wollte 2006 beim WM-Eröffnungsspiel unbedingt dabei sein. Ihm klarzumachen, dass dies wegen seines Trainingsrückstands nicht geht, war nicht einfach und forderte von Jürgen Klinsmann Charakterstärke.

Einen Spieler wie Paolo Guerrero, der mit einer Flasche nach einem Fan wirft, würden Sie wahrscheinlich hochkant rauswerfen. Beim HSV wurde er mit einer Vertragsverlängerung belohnt.

Bierhoff:

Bei einem einzelnen Vergehen muss man sehr genau überlegen, ob man dem Spieler nicht doch wieder eine Chance gibt. Anders sieht es natürlich bei Wiederholungstätern aus.

Guerrero gilt durch mehrere Vergehen sehr wohl als Wiederholungstäter.

Bierhoff:

Den Einzelfall kann ich nicht beurteilen. Grundsätzlich halte ich aber eine klare Philosophie für wichtig. Dazu gehört auch, dass man sich auch von gefeierten Führungsspielern trennt, wenn es nicht mehr passt. Juventus Turin etwa hat Zidane verabschiedet, Manchester United David Beckham.

Büxen Spieler heutzutage eigentlich noch aus dem Trainingslager aus?

Bierhoff:

Nein, das würde heutzutage doch sofort auffliegen. Jeder müsste damit rechnen, mit einer Handy-Kamera fotografiert zu werden.

Machen Sie Kontrollanrufe auf den Zimmern? Gibt es einen Zapfenstreich?

Bierhoff:

Nein. Wir haben uns verständigt, dass die Spieler gegen 23:30 Uhr auf ihren Zimmern sein sollen. Wir haben aber andere klare Regeln. So möchten wir nicht, dass ein Spieler ins Quartier am Abend vor dem Spiel Freunde einlädt.

Ist die heutige Spielergeneration eigentlich einfacher zu führen als frühere?

Bierhoff:

Sie ist auf jeden Fall professioneller, lebt viel bewusster für den Beruf. Und der öffentliche Druck ist ein anderer. Andererseits wurde früher mehr Wert auf Gemeinschaft gelegt. Wir haben früher im Bus Karten gespielt oder miteinander gesprochen, heute hören die meisten Musik über ihre Kopfhörer oder schicken SMS und sind eher bei sich selbst.

Warum verbieten Sie das nicht einfach? Dann würden die Spieler auch mehr miteinander reden.

Bierhoff:

Was sollte das bringen? Es sind erwachsene Menschen. Man muss auch sehr genau überlegen, wie weit man geht, um nicht als aktionistisch wahrgenommen zu werden. Stören die Kopfhörer wirklich die Leistungsbereitschaft? Das glaube ich nicht. Andererseits bleiben natürlich während der Mahlzeiten und in der Spielvorbereitung die Handys aus. Das ist aber eher selbstverständlich als eine Restriktion. Aber ich habe kein Problem damit, wenn ein Spieler nach dem Abpfiff aus der Kabine eine SMS verschickt.

Sie laden gern andere Berufsgruppen ins Quartier ein.

Bierhoff:

Wir hatten unter anderem einen Knigge-Experten da und auch einen Extremkletterer. Da konnten die Spieler beispielsweise lernen, was es heißt, tagelang zu zweit in einem winzigen Zelt bei Schnee und Kälte zu überleben.

Gibt es eigentlich immer noch den Spesen-Tagessatz wie zu Helmut Schöns Zeiten?

Bierhoff:

Ja, 50 Euro am Tag. Zu meiner Zeit wurden sie noch in bar ausgezahlt, die wurden dann häufig beim Kartenspielen eingesetzt. Ich lasse es jetzt überweisen (lacht). Da müssen es die Spieler dann wohl eher zu Hause abliefern.

Herr Bierhoff, für negative Schlagzeilen sorgte 2010 in der Nationalmannschaft nur Ihr Krach um die Vertragsverlängerung zu Jahresbeginn. Sind die Wunden dieses Konflikts wirklich ausgeheilt?

Bierhoff:

Wir alle haben das verarbeitet und hegen keinen Groll. Ich bin in meiner Karriere schon so oft angefeindet worden bin, gut möglich, dass mich das abgehärtet und für solche Situationen geprägt hat.

Und der Streit mit DFB-Sportdirektor Matthias Sammer um die Kompetenzen für die U 21? Freunde werden Sie in diesem Leben nicht mehr.

Bierhoff:

Darum geht es nicht. Das muss man auch nicht. Man muss eine Arbeitsebene finden und professionell für den deutschen Fußball zusammenarbeiten. Wir wollen alle das Gleiche: Erfolg und gute Nationalspieler.

Sie plädieren seit Langem für ein zentrales DFB-Leistungszentrum. Wie ist da der aktuelle Stand?

Bierhoff:

Ich werde meine Pläne im Januar dem DFB-Präsidenten, dem Generalsekretär und dem Schatzmeister präsentieren. Vor allem für die Top-Mannschaften im Nachwuchs wäre ein solches Zentrum sinnvoll, weil dann bestimmte Anlagen für die Leistungsdiagnostik immer zur Verfügung stehen. Aber ich verstehe auch die Einwände dagegen.

Mit großer Empörung wurde weltweit die Vergabe der WM 2022 nach Katar aufgenommen. In ein Land ohne große Fußball-Tradition, zudem im Turnierzeitraum 50 Grad heiß. Das ist doch grotesk.

Bierhoff:

Mich hat die Vergabe überrascht. Ich bin sicher, dass es organisatorisch eine gute WM wird. Aus Sicht der Fans bedauere ich jedoch diese Entscheidung. Denken Sie nur an unsere WM 2006. Etwas Vergleichbares wird in Katar wohl nicht möglich sein. Es haben da andere Kriterien eine Rolle gespielt

Würde Sie die Organisation eines deutschen WM-Auftritts 2022 reizen?

Bierhoff:

In solchen zeitlichen Dimensionen denke ich nicht. Ich habe immer gesagt, dass der Job des Teammanagers für mich keine Lebensaufgabe ist.

Ihr nächster logischer Karriereschritt wäre doch ohnehin die Übernahme eines Vorstandsamtes bei einem Top-Bundesliga-Verein.

Bierhoff:

Die Arbeit in der Bundesliga mit dem täglichen Druck wäre eine völlig neue Herausforderung.

Wäre der HSV für Sie eine Option?

Bierhoff:

Der HSV ist von den Voraussetzungen her am ehesten in der Lage, den Bayern dauerhaft Paroli zu bieten. Die Wirtschaftskraft dieser Metropole ist enorm, das Stadion großartig, hinzu kommt die große Tradition, die wunderbare Stadt und begeisterungsfähige Fans. Natürlich wäre der HSV eine echte Herausforderung. Mein Vertrag beim DFB läuft bis 2012, alles andere ist kein Thema.

Und in zwei Jahren?

Bierhoff:

Dann ist der HSV hoffentlich sportlich wieder so gut aufgestellt, dass er gar keine Hilfe braucht ...