Der Nationalcoach Argentiniens ist Jahrhunderttorschütze und Weltmeister. Er war drogenabhängig und herzkrank. Jetzt ist er wieder da.

Hamburg. Der Fußball, den die Argentinier bei dieser WM spielen, ist schön und gut - aber zum Gähnen langweilig im Vergleich zu den anschließenden Pressekonferenzen ihres Trainers.

Die Letzte ging so: 3:1 hatten die Gauchos die Mexikaner gerade besiegt, da dachte ein neugieriger Journalist schon einen Schritt weiter - und fragte Diego Maradona nach den Deutschen. "No, no, no", brummte der missmutig aus seinem Bart, "heute reden wir über unseren Sieg und morgen über Deutschland."

Die Reporter ließen nicht locker. Ob er nicht doch ...

"Habt ihr es nicht gehört", hob Maradona die Stimme, "ich sage nichts über Deutschland!"

Nur ein Wort, bettelte der nächste Mutige.

"Weißt du was", ging Maradona darauf in die Luft, "schreib, was du willst." Und dann ließt er sich wieder seine dicke, qualmende Havanna reichen, die einer seiner Handlanger warm halten musste, während der Meister sprach.

Diego Armando Maradona steht unter Dampf. Paffend nebelt er mit seinen Zigarren die Pressekonferenzen ein - und ansonsten raucht er bei dieser WM den Rest der Welt in der Pfeife. Nach der lässt er alle tanzen, die Journalisten, die Pelés und Platinis, die Schiedsrichter, einem Fotografen ist er neulich mit dem Auto und einem fröhlichen "A...loch" auf den Lippen über den Fuß gefahren - und zum Dank wird er im Stadion immer von einem Liebesgruß aus der Heimat empfangen. "Fiorito" steht auf dem Transparent, das ist jenes vom Glück etwas vernachlässigte Viertel in Buenos Aires, aus dem "el pibe de oro", der Goldjunge, stammt - und seine Fans von dort haben zwei große Köpfe dazugemalt: Maradona und Che Guevara.

Diego, der Revoluzzer. Er gibt es allen, die bei drei nicht auf dem Baum sind oder, wie Pelé und Platini, irgendwann irgendwo angeblich behauptet haben, dass Maradona als Trainer keinen Schuss Pulver wert ist - viel hat nicht gefehlt, und Maradona hätte seine berühmte Rede an die argentinischen Journalisten nach der erfolgreichen WM-Qualifikation ("Jetzt könnt ihr mir einen bla...") vor diesen beiden gleich noch mal gehalten. Pelé, meckert Maradona, "gehört ins Museum".

El Diego, der Running Gag. Jeden Tag ist er in aller Munde, als wandelnde Schmuckschatulle zieht er mit seinen Diamanten im Ohr und dem um die Finger gewickelten Rosenkranz jede Kamera an, jeder Schritt, jeder Wimpernschlag des Kugelblitzes ist von hohem Nachrichtenwert, oder seine Liebkosungen für die Spieler, die den Zungenkuss scharf tangieren.

"Maradona Fever", hat dieser Johannesburger Tage ein Blatt getitelt. Aber Maradona hat kein Fieber, er ist nicht krank - es ist das Freudenfieber eines Menschen, der bei dieser WM eigentlich gar nicht mehr sein dürfte.

Denn eigentlich ist er tot.

"Eine Katze hat sieben Leben", meinte neulich ein argentinischer Kollege, "bei Maradona haben wir mit dem Zählen aufgehört."

Wie er als Trainer von den Toten wiederauferstanden ist, begreift in Buenos Aires bis heute keiner. Die Chancen der Argentinier, in der WM-Qualifikation zu scheitern, waren so groß wie der Mythos, den Maradona zu verspielen drohte. Vor einem halben Jahr galt er noch als Witzfigur und Nichtskönner. Ungefähr 80 Spieler hat er in seinem geballten Chaos getestet, und ungefähr 80 Prozent der Argentinier waren in Umfragen irgendwann überzeugt, dass ihr ehemaliger Volksheld inzwischen nicht mehr zaubernd den Ball am Fuß, sondern ein Brett vorm Kopf hat.

"Der Bärtige", tröstete sich Maradona, "rettet mich immer."

Mit dem Bärtigen meinte er den Herrgott im Himmel. In der Not hält er im festen Glauben an Psalm 37,5 ("Befiehl dem Herrn deine Wege und vertraue auf ihn") immer um die Hand Gottes an, und der richtet es dann. Jetzt wieder. Maradona kann ihm vertrauen. Sonst wäre er schon 1994 erstmals gestorben - nach der WM in den USA, wo er sich als König des Fußballs beim Doping erwischen ließ und aus dem eigenen Tempel vertrieben wurde.

Damals, mit Mitte 30, begann er erstmals, vom Sterben zu reden. Er gab öffentlich bekannt, dass er sich nur wegen seiner Töchter nicht umbringe, und einmal sagte er im Fernsehen: "Viele wollten mich immer tot sehen - ich bin tot." Wie ernst es war, begriff die Welt dank folgender Bilder: Ein kleiner dicker Star federt zur Talkshow beschwingt ins TV-Studio, tanzt Tango mit der blonden und hochhackigen Schönheitskönigin Cecilia - und bricht zusammen. Anschließend sieht man ihn im Rollstuhl im Krankenhaus, und die medizinische Fachwelt tuschelt über "irreparable Defekte", weist auf die Zerstörung von Gehirnzellen aufgrund übermäßigen Kokaingenusses hin und sieht den Star psychisch zerfallen.

Depressionen, Aggressionen, Verfolgungswahn. Zur Wiederbelebung hat man den Pflegefall seinerzeit in die Schweiz geschickt, in eine Klinik am Bieler See, zur Bekämpfung seiner Drogensucht, und auf dem Höhepunkt der Therapie verlangte der Professor: "Ich will, dass du bei der WM 1998 noch mal groß aufspielst." Maradona nickte. Doch kurz darauf streckte er einem Stadionordner in England mittels heruntergelassener Hose seine vier Buchstaben ins Gesicht, und im spanischen Alicante zertrümmerte er im Hotel zwei Türen, einen Tisch und fünf Sessel.

Ein Herzinfarkt, mit 43, folgte. Elf Tage danach fühlte sich der Zusammengebrochene wieder fit, besuchte eine Grillparty, spielte Golf - und landete im Rahmen des Rückschlags wieder im Hospital.

Mit allen Mitteln hat Maradona versucht, sich umzubringen, in einen tödlichen Kreislauf ist er geraten zwischen Genie und Wahnsinn, und vor drei Jahren war er vollends am Ende, mit Leib und Seele. Von Suizidgefahr war wieder die Rede, er rauchte zu viel, seine Leber war aufgrund eklatanten Alkoholgenusses schwer angegriffen - und seine auf 140 Kilo angeschwollene Leibesfülle gab ihm den Rest. Als "Maratonna" machte er Schlagzeilen, seine Anzüge musste er sich fast aus Zweimannzelten der argentinischen Luftwaffe nähen lassen - und einmal soll es nur noch mit vereinten Kräften gelungen sein, den keuchenden Klops durch die Drehtür am Flughafen zu schieben. Mittels einer Notoperation wurde ihm, ehe er vollends platzte, der Magen halbiert.

Welcher Tag es war, an dem Maradona nicht starb?

Schwer zu sagen. Es waren zu viele. Die Krankenhäuser waren voll mit ihm - und Hector Pezzella, der Leiter der Klinik "Güemes" in Buenos Aires, schockierte die Welt gar vollends mit der Diagnose: "Ich glaube, Maradona hält sich für einen Gott." Mit einem Luftgewehr hat Diego danach noch kurz auf Journalisten geschossen, anschließend ging er ins selbst gewählte Exil nach Kuba, ließ sich von Fidel Castro eine Revolutionsmütze schenken, und am Ende hieß die kürzeste Schlagzeile: "Er spinnt".

Aber er lebt.

Der Bärtige hat wieder die Hand über ihn gehalten, nicht der in Kuba, sondern der im Himmel - und den verloren Geglaubten als Nationaltrainer zur WM geschickt, wo er jetzt nach dem Brasilianer Zagallo und dem Deutschen Beckenbauer der Dritte sein kann, der als Spieler und Trainer Weltmeister wird. Das Chaos hat sich, irgendwie, zu einem großen Ganzen zusammengefügt, und mit dem Heiligenschein ums Haupt steht der kleine, große Diego bei dieser WM inmitten seiner Spieler, die geblendet sind vom Strahlschweif der Lichtgestalt.

"Er füllt uns mit Selbstvertrauen", sagt Lionel Messi.

"Er ist ein Phänomen", sagt Carlos Tevez.

Das ist er. Und wenn er Weltmeister wird, verspricht Diego Maradona, läuft er nackt durch Buenos Aires - das ist das Mindeste, was man von einem Toten erwarten kann, der wieder das Leben genießt.