Die Niederlande kämpfen in einem hitzigen Duell nach 0:1-Rückstand Rekordchampion Brasilien mit 2:1 nieder und trauen sich nun den Titel zu

Port Elizabeth. Wenn Brasilien aus einer WM ausscheidet, dann rollen Köpfe, dann geht es ganz schnell. Nicht mal eine Stunde war das Aus gegen die Niederlande besiegelt, da erklärte Trainer Carlos Dunga seinen Rücktritt. Genau genommen sagte er, dass "ja bekannt war, dass ich vier Jahre im Amt bleiben würde". 2006 hatte er den Posten nach einer Pleite im Viertelfinale übernommen, 2010 gibt er es nach einer Pleite im Viertelfinale wieder ab.

Brasilien ist also kein Stück weiter als damals, und insbesondere die Holländer weinen dem gescheiterten Titelanwärter keine Träne nach. Das lag natürlich vor allem daran, dass sie es waren, die gestern in Port Elizabeth den Favoriten mit 2:1 (0:1) stürzten. Aber darüber hinaus wurde die Überraschung auch von erstaunlich viel Polemik begleitet. "Dieses Brasilien ist eine Schande für die Fans und das Turnier", hatte Johan Cruyff schon vor dem Spiel gelästert, und als es vorbei war, trat Trainer Bert van Marwijk noch einmal nach: Brasiliens Fußball "sollte sich schämen" für das Verhalten einiger seiner Spieler auf dem Platz.

Na ja. Sein Holland focht gestern auch nicht gerade mit feiner Klinge. In der ersten Halbzeit sah man sogar eine äußerst hölzerne und uninspirierte "Elftal". Doch was spielt das noch für eine Rolle? Die Niederlande haben in ihrer Geschichte oft genug in Schönheit verloren, gestern siegten sie hässlich. "Das war ein Sieg der Leidenschaft, kein schöner Fußball, sondern harter Kampf", analysierte Kapitän Mark van Bommel.

Derweil trat Brasiliens Star Kaká mit Augen aus der Kabine, die nicht von ein paar Tränen, sondern einem Sturzbach der Enttäuschung erzählten. Andere Teamkollegen wirkten perplex. Erst auf diese Art werden sie vielleicht langsam realisieren, was da eigentlich passiert ist. Denn lange verteidigte die Mannschaft von Trainer Carlos Dunga wie gewohnt hoch seriös, in der ersten Halbzeit ließ sie nicht eine Torchance zu. Und vorn rappelten sich insbesondere Kaká und Robinho immer wieder zu delikaten Passfolgen auf. Alles war auf den Weg gebracht - bis Felipe Melo zum zweiten Mal den Gang dieser Partie veränderte.

Schon die erste wichtige Szene hatte er eingeleitet, als er in der zehnten Minuten einen Steilpass durch die sperrangelweit offenen holländische Abwehrkette schickte, und Robinho, halbherzig verfolgt vom Stürmer Arjen Robben, den Ball mit dem ersten Kontakt versenkte. Es war ein Tor, wie es so billig im Viertelfinale einer WM auch nicht alle Jahre fällt. Die Brasilianer machten sich dabei zunutze, dass sich Hollands Abwehrchef Joris Mathijsen beim Aufwärmen wegen Knieproblemen abmelden musste - und aus seinem 35-jährigen Ersatz Andre Ooijer wird in diesem Leben kein Weltklasseverteidiger mehr.

Holland hatte anfangs nur ein taktisches Mittel zu bieten: Robben spielte den sterbenden Schwan, um Gelbe Karten für seine Gegenspieler und Atempausen für sein gepeinigtes Team zu provozieren. "Wir hätten in der ersten Halbzeit 0:3 zurückliegen können", sagte van Marwijk, "da waren wir nicht wir selbst und hatten viel Glück". Juan schoss aus acht Metern freistehend über die Latte, Keeper Maarten Stekelenburg parierte bravourös einen Schlenzer von Kaká (31.). Als wären sie eine Auswärtsmannschaft im Europapokal, konnten sich die Niederländer freuen, nur mit einem knappen Rückstand in die Pause zu gehen.

In der müssen sie erkannt haben, dass sie spielerisch nicht mithalten können, aber dass vielleicht auf rustikale Art, mit dem einen oder anderen hohen Ball trotzdem etwas möglich war. Etwa der zweite Auftritt von Felipe Melo: Eine Flanke von Wesley Sneijder köpfte Brasiliens Abräumer ins eigene Netz, nachdem er im selben Manöver schon Torwart Julio Cesar behindert hatte (53.). Die neuartige Schwäche in der Gefahrenabwehr raubte den Brasilianern die Nerven, unerwartete Gegentore können sehr wehtun. Beim 1:2 wirkte die ganze Abwehr wie paralysiert. Dirk Kuyt verlängerte eine Robben-Ecke mit dem Kopf auf Sneijder, der nur 1,70 Meter große Regisseur nickte ein (68.). Ekstatisch zeigte er danach immer wieder auf seinen Kopf, es sollte der Siegtreffer sein.

Später wurde Felipe Melo, 27, gefragt, ob dies sein letztes Länderspiel für Brasilien gewesen sei, denn mit dem Eigentor war für ihn noch nicht Schluss. Er behinderte auch die Aufholjagd, als er Robben in die Kniekehle trat und dafür zu recht vom Platz flog (73.).

Die Partie blieb fiebrig: Brasilien stemmte sich mit aller Macht, Flanken und Ecken segelten in den Strafraum, aber alles wurde abgewehrt, und selbst Ooijer wuchs zum Riesen, als er Kaká in einer Eins-zu-eins-Situation zur Seite abdrängte. "Am Ende waren wir alle nahe am Krampf, wir haben gekämpft wie die Löwen", berichtete van Bommel. Für seinen Trainer und Schweigervater gibt es unterdessen jetzt nur noch ein Ziel. Bedeutungsschwanger formulierte van Marwijk: "Unsere Mission ist es, Weltmeister zu werden."

Niederlande: Stekelenburg - van der Wiel, Heitinga, Ooijer, van Bronckhorst - van Bommel, de Jong - Robben, Sneijder, Kuyt - van Persie (85. Huntelaar).

Brasilien: Julio Cesar - Maicon, Lucio, Juan, Michel Bastos (62. Gilberto Melo) - Dani Alves, Gilberto Silva, Felipe Melo - Kaka - Luis Fabiano (77. Nilmar), Robinho.

Tore: 0:1 Robinho (10.), 1:1 Felipe Melo (53., Eigentor), 2:1 Sneijder (68.).

Schiedsrichter: Nishimura (Japan).

Zuschauer: 40 186.

Rote Karte: Felipe Melo (Tätlichkeit, 73.)

Gelbe Karten: Heitinga, van der Wiel (2), de Jong (2), Ooijer - Michel Bastos