An seinem ersten Arbeitstag als Hertha-Trainer scheint der 73 Jahre alte Otto Rehhagel den Ton der modernen Spielergeneration zu treffen.

Berlin. Der Wintereinbruch hat auch die Rasenheizung auf dem Schenckendorffplatz überrascht, da greift Hertha BSC nach gut einer Stunde Training der Profimannschaft zum Äußersten. In der auf dem Vereinsgelände angesiedelten Jugendakademie wird flugs ein Dutzend Nachwuchsspieler mit Schippen ausgestattet. Nach draußen ins Freie werden sie abkommandiert, um den Platz vom Schnee freizuräumen. Ob sie dabei wohl daran denken, dass einige von ihnen noch nicht einmal geboren waren, als der Herr dort drüben auf der gegenüberliegenden Seite zum zuvor letzten Mal das Training einer Vereinsmannschaft befehligt hat?

+++ Die Ottokratie wird bei Hertha zum Berliner Gesetz +++

Vor elfeinhalb Jahren beim 1. FC Kaiserslautern war das, und dass Otto Rehhagel, 73, nach seinem Ende als Griechenlands Nationaltrainer vor knapp zwei Jahren jetzt noch einmal aus dem Ruhestand auf den Fußballplatz zurückgekehrt ist, klassiert als mittelschwere Sensation in der an Kapriolen und unerwarteten Volten gewiss nicht armen Fußball-Bundesliga. Dass seine auf drei Monate befristete Rettermission in Berlin im dichten Schneetreiben beginnt, passt obendrein so recht ins Bild, das Rehhagels neuer Arbeitgeber in diesen Wochen permanent abgibt: Ein wenig Chaos muss bei Hertha schon sein - selbst dann noch, wenn nur das Wetter daran Schuld hat. Selten jedenfalls sind Hütchen auf einem Fußballplatz so nötig wie jene, die Rehhagels Assistent René Tretschok um kurz nach 10 Uhr zur Markierung der Seitenauslinie aufstellt.

Zuvor hat Rehhagel erstmals zu seiner neuen Mannschaft gesprochen. Was er gesagt hat, will kein Spieler verraten. "Wir sollten jetzt versuchen, die Dinge, die in der Kabine besprochen werden, auch in der Kabine zu behalten", fordert Mittelfeldspieler Peter Niemeyer. Viel zu viel ist in den vergangenen Wochen schließlich nach außen gedrungen. Die Misere des Rehhagel-Vorgängers und 52-Tage-Trainers Michael Skibbe nahm mit einem öffentlich gewordenen Kabinenkrach zwischen ihm und Ersatzkapitän Christian Lell ihren Anfang.

+++ Rehhagel leitet erstes Training - Kahn kritisiert, Lemke warnt +++

Jetzt, sagt Niemeyer, "freuen wir uns, dass König Otto da ist". Zwar hat selbst der frühere Bremer an Rehhagels langjähriger Wirkungsstätte "niemanden mehr gefunden, der so wirklich aus seiner Zeit erzählen kann". Aber sein in fast einem halben Jahrhundert im Fußball erworbener Ruf eilt Rehhagel auch so voraus. Fußballer, erzählt Niemeyer, achteten auf das, was einer erlebt und vor allem erreicht habe. "Und was Rehhagel erreicht hat, ist einmalig, deshalb nehmen die Spieler seine Worte auch sehr gut an. Wenn ein Otto Rehhagel den Raum betritt, füllt er den Raum. Er hat eine enorme Aura. Ich glaube schon, dass das Spieler - sowohl jung als auch alt - beeindruckt."

Während der Nachweis noch aussteht und erstmals Sonnabend beim Spiel in Augsburg erbracht werden kann - und mit Blick auf die sportliche Lage des seit elf Spielen sieglosen Tabellenfünfzehnten auch erbracht werden muss -, scheint Rehhagel an seinem ersten Trainingstag durchaus den Ton der modernen Spielergeneration getroffen zu haben. Doch er arbeitet nach ganz eigenen Vorstellungen. Mal ruft er alle zur Ansprache zusammen, doch ein anderes Mal stapft er auch achtlos in eine entlegene Ecke, wo er sich mit seinem Trainerstab bespricht.

Wo immer er sich aufhält - Rehhagel fällt auf. Er ist kleiner als alle anderen. Der wattierte Wintermantel reicht fast bis zum Boden. Erkennbar machen ihn außerdem die kleinen, immer etwas hektisch wirkenden Schritte, mit denen er durch den Schnee tippelt - und dass er als einer von wenigen keine Wollmütze aufgezogen hat. Dass ein reguläres Üben auf dem schneebedeckten Boden kaum möglich ist - was soll's, nach 20 Minuten Warmlaufen und Stretching lässt Rehhagel gelbe Trainingsleibchen verteilen und bittet aufs verkürzte Feld zum Spiel zehn gegen zehn. Der zuletzt nicht einmal mehr für den 18er-Kader berücksichtigte Tunay Torun erzielt das erste Tor und etwas später per Direktabnahme auch ein herrlich anzusehendes zweites. 3:3 endet schlussendlich der Kick, an den sich bei Temperaturen um den Gefrierpunkt mit Niemeyer, Lewan Kobiaschwili, Fanol Perdedaj und Ersatztorwart Sascha Burchert nur vier Profis in kurzen Hosen herangewagt haben.

Immer wieder hat Rehhagel unterbrochen, dann ruhten die signalroten Bälle für eine Weile. "Er hat angesprochen, was ihm aufgefallen ist", berichtet Niemeyer später, weil er irgendwas aus der noch kurzen gemeinsamen Zeit ja sagen muss: "Er hat ganz deutlich gesagt, wann wir Fehler gemacht haben. Aber er hat auch gelobt, dass wir auch auf dem schwierig zu bespielenden Untergrund gut kombiniert haben."

Mit Journalisten spricht König Otto an diesem Tag eins seiner Regentschaft nicht. Er sei hier, "um die Mannschaft zu trainieren, nicht die Medien", lässt er über einen Sprecher ausrichten. Dabei sind sie doch von fast überall her extra angereist. Der Sky-Nachrichtenkanal hat einen Übertragungswagen geschickt und lässt den Reporter eine Liveschalte nach der anderen ins Land senden. Das führt zur Frage an den Profi Niemeyer, ob es den sportlich ohnehin schon gewaltigen Druck auf die Mannschaft denn nicht noch zusätzlich steigert, wenn wegen Rehhagel fortan nicht nur ganz Berlin, sondern die gesamte Fußballrepublik auf Hertha blickt.

Da lacht der Führungsspieler. Es ist vor allem wohl seine Hoffnung, die er in die Aussage kleidet, dass das Schöne an Rehhagel ja sei, "dass niemand auf uns schaut, sondern alle auf den Trainer. Ich glaube, das ist ganz gut so." Und Niemeyer liegt mit seiner Einschätzung so verkehrt wohl nicht. Abzulesen ist das an den diversen Liveschalten des Sky-Reporters, in denen nicht Herthas Lage interessiert, sondern nur, was Otto tut, was er sagt, mit wem er spricht, Otto, Otto, Otto.

Auch der Fan, der zum Interview gebeten wird, soll ausschließlich davon erzählen, wie er schon im Jahr der Bundesligagründung 1963 dem damaligen Hertha-Verteidiger Otto Rehhagel zugejubelt hat. Daraufhin muss der Mann insgesamt vier Fernseh- und Radiointerviews geben, hernach erzählt er stolz per Handy den Daheimgebliebenen von seinem großen Auftritt.