Der Verbandschef des DFB Theo Zwanziger spricht von Amtsmissbrauch und fordert, das Tabu des Schweigens zu brechen. Er will eine Reform.

Abendblatt: Herr Zwanziger, erst der Selbstmord von Robert Enke, dann die Wettaffäre, schließlich der Streit mit Bundestrainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff und nun die Schiedsrichter-Affäre um Manfred Amerell. Denken Sie manchmal, Sie sind als DFB-Präsident gerade in einem bösen Film?

Theo Zwanziger: Nein. Wenn man denkt, man ist als DFB-Präsident in erster Linie dafür da, sich auf dem Frankfurter Römer für Erfolge der Nationalmannschaften feiern zu lassen, geht man mit Illusionen an eine solche Aufgabe. Ein solcher Typ war ich jedoch nie. Zum Fußball gehören Aufstiege und Abstiege, Tränen und Jubel. Und das spiegelt sich auch im Auf und Ab bei der Führung eines Verbandes wider.

Abendblatt: Dennoch hat die Affäre um Manfred Amerell eine neue Dimension. Ihnen wird vor allem vorgeworfen, dass Sie die Öffentlichkeit über die Vorwürfe gegen den inzwischen zurückgetretenen Schiedsrichtersprecher viel zu spät informiert haben.

Zwanziger: Als ich von den Vorwürfen gegen Manfred Amerell am 15. Januar erfuhr, war zunächst zu klären, wer hier Opfer ist und wer Täter. Es war daher richtig, nur mit erfahrenen hauptamtlichen Mitarbeitern des DFB beide Personen anzuhören. Erst dann stand für uns zweifelsfrei fest, dass Manfred Amerell in seinem Umgang mit Michael Kempter die Grenze weit überschritten hat, die ein Schiedsrichter-Funktionär gegenüber den ihm anvertrauten Schiedsrichtern haben darf.

Abendblatt: Haben Sie ein Problem mit homosexuellen Schiedsrichtern?

Zwanziger: Überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Wenn ein Schiedsrichter seine Zuneigung zu einem Kollegen entdeckt und die beiden auf freiwilliger Basis als Paar leben, ist dies ganz selbstverständlich zu akzeptieren. Aber der Fall hier liegt ganz anders. Es gab ein Abhängigkeitsverhältnis, genau wie zwischen Lehrer und Schüler. Und die jungen Schiedsrichter stehen in einem Wettbewerb, nur die Allerbesten kommen nach oben. Wie weit sie es nach oben schaffen, hängt sehr stark von den Beurteilungen ab, die die Beobachter schreiben. Entsprechend strikt muss die Grenze gezogen werden. Im Kern geht es um den Missbrauch eines Amtes.

Abendblatt: Manfred Amerell beteuert seine Unschuld.

Zwanziger: Ich würde es mir wünschen, er wäre wirklich unschuldig. Aber dann hätten viele junge Leute uns gegenüber Dinge erfunden, die man nicht erfinden kann. Daran kann ich nicht glauben. Die Ausführungen von Michael Kempter werden durch andere Aussagen gestützt.

Abendblatt: Manfred Amerells Anwalt spricht von einem Skandal. Er wirft Ihnen vor, dass Sie unter Umgehung rechtsstaatlicher Strukturen eine Verurteilung vorgenommen haben.

Zwanziger: Es ging doch hier nicht um eine strafrechtliche Ermittlung. Oder um ein Verfahren vor dem DFB-Kontrollausschuss mit entsprechend langen Fristen. Sondern um ein Amt, in das man berufen wird und von dem man jederzeit vom DFB-Präsidium abberufen werden kann. Wir mussten nach gründlichen Befragungen zügig handeln. Manfred Amerell ist dann zurückgetreten. Daher ist für uns der Fall als solcher auch beendet.

Abendblatt: Für Manfred Amerell ist es dennoch eine persönliche Katastrophe. Er hat über Selbstmordgedanken gesprochen. Machen Sie sich Sorgen - gerade nach dem Freitod von Nationaltorwart Robert Enke?

Zwanziger: Ja, ich mache mir schon große Sorgen. Seine Situation muss gerade als Familienvater schrecklich sein. Über viele Jahre habe ich Manfred Amerell für seine Verdienste um das Schiedsrichterwesen sehr geschätzt. Aber auch das größte Ehrenamt kann nicht rechtfertigen, dass man beispielsweise bei Rot über die Ampel fährt. Die alles entscheidende Frage bleibt, ob er sich der Wahrheit stellen will. Das ist seine Entscheidung, die ich ihm nicht abnehmen kann. Ich kann nur appellieren, dass er sich zur Wahrheit bekennen soll.

Abendblatt: Warum machen Sie das nicht in einem persönlichen Gespräch?

Zwanziger: Dies ist durch die Vorhaltungen seines Anwalts inzwischen fast unmöglich. Ich kann nur auf die Selbsteinsicht und Selbstkritik seiner Berater hoffen. Dann können wir über alles reden.

Abendblatt: Für Ligapräsident Reinhard Rauball ist das Schiedsrichterwesen eine Art Geheimorden. Das strikt Männerbündnerische befördert doch solche Fälle wie Amerell.

Zwanziger: Da haben Sie absolut recht. Schon bei der Beerdigung von Robert Enke habe ich gesagt, dass wir das Tabu des Schweigens aufbrechen müssen. Die Tabus sind das Problem und nicht die Neigungen. Und dieses Tabu ist gerade im Fußball so ausgeprägt, weil es diese klassischen Männerstrukturen gibt. Mit Macht, mit dem ewigen Besser-sein-Wollen, mit Überlegenheitsdenken. Das Gleiche gilt, um nur ein Beispiel zu nennen, für die Bundeswehr. Das oberste Gebot ist, nur nicht das eigene Nest zu beschmutzen. Ich kenne seit Jahren auch Homosexuelle im Fußball, begleite auch entsprechende Fan-Initiativen. Ich weiß, wie manche gelitten haben. Und alle haben sie mir gesagt, dass es gar kein Problem mehr gab, als sie sich geöffnet haben.

Abendblatt: Michael Kempter wird dies jetzt herzlich wenig nützen.

Zwanziger: Ich habe dem Schiedsrichterausschuss gesagt, dass wir ganz schnell zur Normalität kommen müssen. Er braucht wieder Einsätze. Denn Michael Kempter ist ein Opfer. Es hat ihm ungeheure Kraft abverlangt, sich uns gegenüber zu offenbaren. Ich halte das für eine ganz starke Leistung. Denn als Fifa-Schiedsrichter war seine Position so sicher, dass ihm auch bei möglichen Problemen mit einem Beobachter nicht mehr viel hätte passieren können. Er hätte also schweigen können. Aber er hat an die noch jüngeren Kollegen gedacht. Ihnen wollte er helfen.

Abendblatt: Die Sprechchöre bei Kempters erstem Spiel können wir uns trotzdem vorstellen.

Zwanziger: Mag sein, dass ein paar Unverbesserliche schreien werden. Aber er wird es schaffen. Der Schritt, uns zu informieren, hat viel mehr Mut gefordert als die Rückkehr ins Stadion. Zudem wissen viele Fans auch, was er geleistet hat. Und sie werden dies respektieren. Wenn die Reaktion in den Stadien auf Kemptner insgesamt positiv sein sollte, wäre dies ein ganz starkes Zeichen für Fairplay.

Abendblatt: Wann wird sich der erste schwule Nationalspieler outen?

Zwanziger: Das wird und muss immer eine persönliche Sache sein. Wenn jemand an diesen Punkt käme, würde er von uns alle Unterstützung bekommen. Aber bei den Spielern ist es noch schwieriger als bei einem Schiedsrichter. Denn hier geht es auch um das gesamte Team. Und in fast jeder Mannschaft gibt es Spieler aus Ländern, die Homosexualität strikt ablehnen. Entsprechend groß wären die Probleme für den Zusammenhalt des Teams.

Abendblatt: Sie haben jetzt eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Herbert Fandel eingesetzt, die das Schiedsrichterwesen reformieren soll. Was versprechen Sie sich davon?

Zwanziger: Ich will den Ergebnissen nicht vorgreifen. Ganz wichtig ist mir aber, dass die Laufbahn eines Schiedsrichters nicht mehr von der Wertschätzung einer Person abhängig sein darf. Das habe ich aber auch schon vor Monaten eingefordert. Derzeit ist es so, dass von sechs Bewertungen mitunter vier von ein und demselben Beobachter stammen. Ein solches Bewertungsschema macht sich automatisch angreifbar. Schließlich entsteht die Beurteilung unter dem Eindruck einer Momentaufnahme und ist damit kaum nachprüfbar. Deshalb ist die Einhaltung von Formvorschriften so wichtig. Es darf auch nicht der Hauch eines Verdachtes von Günstlingswirtschaft entstehen.

Abendblatt: Warum geben Sie das Schiedsrichterwesen nicht zum Ligaverband DFL? Es geht immerhin um Spiele der Topligen.

Zwanziger: Nach den Vorgaben von Fifa und Uefa obliegt das Schiedsrichterwesen den nationalen Verbänden. Das geht also gar nicht. Und wer gibt mir denn die Garantie, dass alles besser läuft, nur weil jetzt die DFL zuständig sein sollte? Auch der beispielsweise von Herrn Magath geforderte Profi-Schiedsrichter bliebe ein Mensch, der Fehler machen kann. Dennoch arbeiten wir bei den Reformen eng mit der DFL zusammen.

Abendblatt: Die nächste Baustelle könnte sich schon am 3. März nach dem Länderspiel gegen Argentinien wieder ergeben. Bei einer schlechten Vorstellung wird die Diskussion um Ihren Streit mit Joachim Löw und Oliver Bierhoff um die Vertragsverlängerung wieder aufflammen.

Zwanziger: Das halte ich schon aus. Wichtig war mir, dass wir nicht den Mantel des Schweigens über unsere Auseinandersetzung gelegt haben. Und die meisten Fans fanden es gut, dass der DFB sich nicht alles gefallen lassen hat. Mit den zu hohen Forderungen war etwas aus dem Ruder gelaufen. Wir haben uns ausgesprochen, Joachim Löw wird sich voll und ganz auf die Vorbereitung des Länderspiels konzentrieren. Das Image der Nationalmannschaft hat keinen Schaden genommen.

Abendblatt: Ist das Vertrauensverhältnis denn wieder zu kitten?

Zwanziger: Natürlich sind in dieser Phase Kratzer entstanden. Aber Oliver Bierhoff war eben gerade wieder bei mir, um etwas mit mir zu besprechen. Das wird schon wieder. Denn ich schätze beide sehr.

Abendblatt: Sie möchten also wirklich den Vertrag nach der WM verlängern.

Zwanziger: Aber ja. Löw und Bierhoff werden sicherlich nicht bis zur Rente beim DFB bleiben, dafür sind sie noch zu jung. Aber ich bin ein sehr konservativer Mensch. Und ich arbeite lieber weiter mit Leuten zusammen, die ich wirklich gut kenne.

Abendblatt: Aber Sie werden ja auch im Juni 65. Zeit für die Rente?

Zwanziger: Wenn ich gesund bleibe, werde ich beim Bundestag im Oktober in Essen wieder kandidieren. Mir macht die Arbeit nach wie vor großen Spaß. Und die meisten Fans finden ja auch, dass ich die Sache trotz der derzeit sicherlich turbulenten Zeiten so ganz schlecht nicht mache.