Der dänische Europameister John Jensen, der zwischen 1988 und 1990 beim HSV spielte, über die Chancen seiner Elf gegen Deutschland.

Kolberg. Ich habe nichts vergessen. Der Titeltriumph nach der unfassbaren Vorgeschichte war überwältigend. Anstatt einfach drei schöne Spiele zu spielen und nach der Vorrunde wieder nach Hause zu fahren, haben wir 1992 den EM-Titel geholt. Und das mit nur einer Woche Vorbereitung, weil kurz vor Turnierbeginn Jugoslawien in einen Krieg verwickelt wurde und nicht antreten konnte. Damals musste unser Trainer Richard Möller-Nielsen sogar sechs Spieler im Strandurlaub anrufen und zurückholen. Damals entstanden dann auch die später berühmt gewordenen Fotos, wie wir uns in Badelatschen und kurzen Hosen zusammenfinden.

+++ Bendtner bekommt Ärger mit der Uefa – wegen seiner Unterhose +++

+++ "Fast alle gleich stark": Dänemark zittert vor der DFB-Elf +++

Wir hatten damals eine Ausnahmesituation, und die Jungs von heute wollen das alles auch gar nicht mehr hören. Sie wissen alle, was damals 1992 in Schweden passiert ist. Ihre Eltern werden es ihnen hundertfach unter die Nase gerieben haben. Schon deshalb muss jetzt niemand mehr von Dingen sprechen, die schon 20 Jahre her sind. Vor allem nicht, weil die heutige Mannschaft selbst das Zeug hat, große Ziele zu verwirklichen.

Denn immerhin haben wir mit Morten Olsen einen Trainer, der perfekt zu uns passt. Er ist die geniale Mischung aus Akribie, Perfektionismus und Psychologie. Er hasst Fehler und weiß genau, wann er die Leine kurz halten muss. Er weiß aber auch, wann die Jungs ihre Freiheiten brauchen. Natürlich zieht er nicht mit ihnen zu McDonald's, wie wir es damals gemacht haben. Das wäre auch höchst unprofessionell. Heute gibt es wahrscheinlich auch kein Bier mehr nach den Spielen - oder zumindest nicht so viele wie 1992 -, aber auch die Spieler von heute haben ihre Freiheiten. Olsen lässt sie Golf spielen, gibt ihnen Freizeit zum Ausruhen, Spazierengehen, Karten spielen. Er erlaubt alles - aber in Maßen. Weil er weiß, dass es nur mit Spaß nicht funktioniert. Er weiß, dass diese Mannschaft die Qualität hat, im Turnier weit zu kommen, während für uns damals vor Turnierbeginn eigentlich klar war, dass nach den Duellen gegen England, Schweden und Frankreich Schluss wäre. Bis wir überrascht haben. Das Remis gegen England ließ plötzlich alle hoffen. Wie jetzt das 1:0 gegen Holland.

Wobei ich zwischen damals und heute einen großen Unterschied sehe: Wir haben gehofft - die heutige Mannschaft aber glaubt an den Erfolg. Auch wenn es im Spiel gegen Deutschland schwer wird. Joachim Löws Team ist zusammen mit Spanien mit weitem Vorsprung Topfavorit auf den Titelgewinn. Spanien, weil sie individuell am besten sind, und Deutschland, weil sie alles haben. Technik, Tempo und ein geschlossenes Auftreten. Womit ich aber bitte nicht falsch verstanden werden will. Wir Dänen haben keine Angst. Nie.

Ohne mich jetzt an einem einzelnen Spieler hochziehen zu wollen, aber einen Nicklas Bendtner in Topform werden wir benötigen. Obwohl unsere größte Stärke in der Geschlossenheit liegt. Noch immer. Ich begleite unsere Mannschaft als Kommentator für den dänischen Sender TV1 und bin sehr nah an der Mannschaft, auch beim Training. Und wenn ich sehe, wie viel Spaß die Jungs haben, obwohl am Sonntag ein derart wichtiges Spiel ansteht, dann erinnert mich das an uns früher. Da sind alle Freunde. Alle haben Mortens Philosophie verstanden und verinnerlicht.

Auch wenn Olsens 4-3-3-System offensiv ausgerichtet ist, glaube ich, dass es dennoch Parallelen zu 1992 geben könnte. Damals standen wir unter Dauerdruck. Nur unser Torwart Peter Schmeichel hielt uns mit unfassbaren Paraden im Spiel. Viele Leute sagen mir immer wieder, dass ich damals mit dem 1:0 in der 19. Minute das wichtigste Tor der dänischen Fußballgeschichte geschossen habe. Und ich gebe ihnen recht. Dann gucken sie mich immer an und denken erst, ich sei eklig unbescheiden. Aber ich erkläre es dann.

Es war ja nicht das wichtigste Tor, weil es schön war. Oder weil es von mir war. Nein, Quatsch! Wir waren vor dem Tor aber schon wie tot. Wir hatten gedacht, die Deutschen machen uns fertig. Und plötzlich das 1:0, plötzlich gewannen wir Zweikämpfe, und alle liefen, als gäbe es kein Morgen. Das Tor gab uns unfassbare Kraft. Ich habe so etwas vor- und nachher nie erlebt. Wenn ich heute gefragt werde, ob ich an einen Sieg gegen Deutschland glaube, ist das der Augenblick, an dem ich doch noch mal an 1992 erinnere.

John Jensen, 47, absolvierte von 1988 bis 1990 als Mittelfeldspieler insgesamt 51 Pflichtspiele für den HSV. Als Trainer arbeitete er bis 2009 beim FC Randers und 2011 als Co-Trainer bei Blackburn.