Der Bundestrainer muss in Südafrika auf Torwart René Adler verzichten. Der Aufbau des perfekten WM-Teams gerät immer mehr zum Himmelfahrtskommando

Vor fast genau zwei Jahren musste es die Zugspitze sein. Auf dem mit fast 3000 Metern höchsten Berg Deutschlands wurde vor der Europameisterschaft 2008 der vor Symbolik triefende Sturm auf den (EM-)Gipfel ausgerufen.

Am morgigen Donnerstag wird es bescheidener, wenn Joachim Löw zum großen Finale seiner persönlichen Castingshow nach Stuttgart bittet. Im Museum von Sponsor Mercedes-Benz wird der Bundestrainer der deutschen Nationalmannschaft die Fußballer präsentieren, mit denen die Mission gelingen soll, in Südafrika den vierten Weltmeisterschaftstitel nach 1954, 1974 und 1990 zu gewinnen. Der kühle Charme der ausgestellten Mobile passt auch viel besser zur Atmosphäre. Rund um die kickende Elite herrscht Kater- statt Aufbruchstimmung.

Der Grund hierfür heißt René Adler. Dass Löw gestern unerwartet seine Nummer eins von der Kandidatenliste streichen musste, war ein Schock. Die am 17. April erlittene Rippenverletzung schmerzt den 25-jährigen Leverkusener weiter so sehr, dass sich der Torwart gestern zu einer Operation entschloss: "Es war die schwierigste Entscheidung meines Lebens", sagte er. "Aber es wäre mir selbst, meinem Verein und der Nationalmannschaft gegenüber unverantwortlich gewesen, an der WM teilzunehmen. Ich hätte auf Dauer im Training und auch in den Spielen keine Bestleistung bringen können. In einem derart langen und intensiven Turnier aber ist das unerlässlich. Da braucht es topfitte Spieler."

Erst im März hatte Löw Adler endgültig zu seinem Stammtorwart erklärt, vier Monate nach dem Selbstmord des an Depressionen leidenden Robert Enke. Zwar macht sich nun auch Werder Bremens Torwart Tim Wiese Hoffnungen auf den vakanten Platz, doch als Favorit gilt Manuel Neuer von Vizemeister Schalke 04. Ein ebenso hoch talentierter wie international unerfahrener Torhüter. Die Karrierebilanz des 24-Jährigen: zwei A-Länderspiele, acht Einsätze in der Champions League, Europameister mit den U-21-Junioren. Ob Neuer der immensen Drucksituation standhalten wird oder sich in einem hart umkämpften Viertelfinale den entscheidenden Fehler leistet? Völlig offen.

"Eine Weltmeisterschaft ist nun einmal das höchste Level, auch was die Anspannung und Konzentration betrifft", beschreibt Oliver Kahn im Gespräch mit dem Abendblatt das Empfinden einer WM-Endrunde. "Die Spieler sind in einer absoluten Ausnahmesituation, deshalb findet dieses Turnier ja auch nur alle vier Jahre statt. Diese Erfahrung kann man nicht mit der Champions League und schon gar nicht mit der Bundesliga vergleichen."

Kahn, der einstige Titan, war eine Größe in der jahrzehntelangen deutschen Torwart-Dynastie. Wie einst Toni Turek, Hans Tilkowski, Toni Schumacher, Andreas Köpke, Sepp Maier oder Bodo Illgner. Sie verkörperten besonders in den Zeiten des bescheidenen Offensivspiels - und das galt fast immer - den idealen Hüter des wertvollsten Schatzes: des deutschen Tors. Kein Wunder, dass Kahn jetzt fordert: "Es wird Zeit, dass wir wieder in einer Phase mit einer echten Nummer eins kommen, wir brauchen einen perspektivischen Torhüter für die Zukunft." Neuer hat es in den Händen, ob er die Chance seines Lebens nutzt und der Heilsbringer sein wird. Kahn will jedenfalls nicht in den Chor der Pessimisten einstimmen: "Man hat es schon früher erlebt, dass ein Torwart ins kalte Wasser geworfen wurde und er auch schwamm. Sogar sehr gut. Warum soll das diesmal nicht möglich sein?"

Als Nummer drei wird wohl Münchens Meistertorwart Jörg Butt nominiert, der bereits 2002 in Japan und Südkorea geduldig sein Dasein als Ersatz des Ersatztorwarts ertrug. Eine Rückholaktion des 40-jährigen Jens Lehmann gilt als unwahrscheinlich.

Die WM entwickelt sichzum Himmelfahrtskommando

Doch nicht nur die Unsicherheit im deutschen Kasten nährt die Skepsis, ob die DFB-Auswahl eine erfolgreiche WM spielen kann. 39 Tage vor dem ersten WM-Gruppenspiel gegen Australien stellt sich die deutsche Nationalmannschaft als ein kompliziertes Puzzle dar, in dem die entscheidenden Verbindungsstücke noch gesucht werden. Die WM entwickelt sich für Löw immer mehr zum risikobeladenen Himmelfahrtskommando, in dem die Besetzung des deutschen Tors angesichts der nachgewiesenen Qualitäten von Neuer und Wiese noch das kleinste Problem ist. So sind zwei von vier Positionen in der Abwehr nicht fest vergeben. Ob sich der Bundestrainer auf die Künste von HSV-Profi Jerome Boateng bereits verlassen kann, der eher einem ungehobelten als einem geschliffenen Diamanten ähnelt? Nur eine von mehreren Baustellen der DFB-Auswahl.

Übertrieben formuliert lassen sich Löws Nationalmannschaftskandidaten in drei Klassen einteilen. Die Aussätzigen: Spieler wie Kevin Kuranyi oder Torsten Frings hat der Bundestrainer aussortiert. Die Kranken: Neben Adler musste auch Leverkusens Simon Rolfes wegen einer Knieverletzung seinen Verzicht erklären. Die Untauglichen: Bei etlichen Akteuren wird die WM-Tauglichkeit infrage gestellt. So verweigerten die Stürmer Mario Gomez, Miroslav Klose und Lukas Podolski in der Rückrunde kollektiv den Dienst vor dem gegnerischen Tor und erzielten zusammen magere sechs Tore.

Als Löws Hauptproblem entpuppte sich in den vergangenen Wochen vor allem die Frage, wie er sich um Spannungsfeld zwischen dem Leistungsprinzip und dem Faktor Kontinuität positionieren soll. Zählen 18 Bundesligatore eines Kuranyi weniger als die Erfolge eines Klose oder Podolski in der Vergangenheit?

Günter Netzer hat seit Jahren jedes Spiel der Nationalmannschaft gesehen. Der ARD-Experte moniert, dass es die DFB-Auswahl in den vergangenen zwei Jahren nicht geschafft habe, ein einziges vernünftiges Spiel über 90 Minuten abzuliefern, zugleich setzt er aber auf die vierwöchige Vorbereitung. Schließlich gelang es dem Trainerstab des DFB auch vor der WM 06 und der EM 08, aus einem fragilen Gebilde eine widerstandsfähige und harmonische Einheit zu bilden, die mit konzertierten Aktionen die weitaus größere individuelle Klasse gegnerischer Spieler neutralisierte.

Nachdem der FC Bayern München jedoch das Finale der Champions League am 22. Mai erreichte, reisen die Spieler des deutschen Meisters erst reichlich verspätet ins Trainingslager nach Südtirol, wo mit vielen taktischen Übungen die Grundlage für den Titelgewinn gelegt werden soll.

Nachwuchs entscheidet über das Schicksal Joachim Löws

Abgewartet werden muss auch, wie sehr die ungewisse Zukunft Löws die Konzentration stört. Nach den mit viel Getöse gescheiterten Vertragsverhandlungen des DFB mit ihm und Manager Oliver Bierhoff gilt eine Weiterbeschäftigung Löws bei einem frühen Ausscheiden als ausgeschlossen. In jedem Fall hat das Ansehen des 50-Jährigen, der zuvor Günther-Jauch-ähnliche Sympathiewerte in der Bevölkerung genoss, bereits gelitten.

Ob Bierhoff selbst im Erfolgsfall noch eine Zukunft beim Verband hat, ist äußerst zweifelhaft, da dessen Vertrauensverhältnis zu DFB-Präsident Theo Zwanziger als zerstört gilt. Schwache Auftritte während der Vorbereitung und ein misslungener Start in die WM dürften die Diskussionen um die Führung beim DFB schnell verschärfen.

Paradoxerweise ist Löw im WM-Jahr gezwungen, mit der nachdrängenden Generation Thomas Müller, Toni Kroos, Jerome Boateng und Sami Khedira ein stabiles WM-Modell zu basteln, das zugleich eine rosige Zukunft verspricht, die er aber womöglich nicht mehr im Amt erleben darf.

Ob sein Kapitän während des Crashkursus "Wie werde ich eine Weltklasse-Mannschaft?" eine entscheidende Stütze sein wird, bleibt ebenfalls abzuwarten. "Michael Ballack ist unser bester Spieler, aber er tritt noch nicht dominant genug auf", kritisiert Netzer den Profi des FC Chelsea, der zwar der Herrscher auf dem Platz ist, aber schon mehrfach mit aufmüpfigen Untertanen zu kämpfen hatte. Netzer, früher ein herausragender Mittelfeldstratege, ist es zu seiner aktiven Zeit nie passiert, von einem jüngeren Mitspieler geohrfeigt zu werden - Ballack hingegen ist von Podolski schon einmal "abgewatscht" worden.

Ob die Partnerschaft mit Bastian Schweinsteiger in der Zentrale des deutschen Spiels reibungslos funktioniert, ist eine weitere entscheidende Frage. Schließlich müsste der torgefährliche Ballack, den es gerne in die vordere Reihe zieht, viel häufiger für Schweinsteiger die Defensivarbeit verrichten als zu Zeiten, in den Frings für ihn den Vorarbeiter spielte. Wenig verwunderlich also, dass Ballack ein Comeback des Bremers mehr als wohlwollend aufgenommen hätte.

Sorgen über Sorgen, die Löw am 6. Juni mit im Gepäck hat, wenn er mit dem Airbus 380 von Frankfurt Richtung Johannesburg abhebt. Bleibt zu hoffen, dass wenigstens vor Ort alles glatter läuft als zuletzt. Im Velmore-Hotel, dem Mannschaftsquartier bei Pretoria, waren zuletzt Probleme wegen nicht beachteter Bauvorschriften aufgetreten, weshalb die Behörden sogar einen Wechsel der Unterkunft erörterten. Dabei wäre es gerade im südafrikanischen Winter besonders wichtig, für die Nationalelf eine Wohlfühloase zu schaffen. Einkaufstouren oder Ausflüge, die die Fußballer gerne an freien Tagen einstreuen, wird es angesichts der Sicherheitsproblematik nicht geben. Aber wer weiß, vielleicht schweißen die Spieler und Trainer ja gerade die vielen Probleme in der Einöde zusammen.

Und wenn's doch nichts wird mit dem WM-Titel, könnte Löw oder sein Nachfolger ja als nächsten Ort der Bekanntgabe seines Kaders das neue DFB-Fußballmuseum auswählen. Damit man sich wieder an glorreiche Zeiten erinnert, in denen das Puzzle aufging.