Hamburg. Historiker verfasst zum 75-jährigen Bestehen des Hamburger Sportbundes eine anekdotenreiche Chronik. Wem die Schläge gelten sollten.

Ein aktiver Boxer als Präsident eines Dachverbands, das klingt zunächst wenig kurios. Ein Präsident eines Dachverbands allerdings, der aktiver Boxer ist und jedem kritischen Journalisten damit droht, sich bei Veröffentlichung pikanter Sachverhalte „genötigt zu sehen, ihn in aller Öffentlichkeit zu verprügeln“ – das ist die kurioseste Anekdote, die Lars Amenda aus seiner Arbeit der vergangenen Monate destilliert hat. Auch wenn er sie in allen Einzelheiten kennt, muss der 52-Jährige immer noch lachen, wenn er sie erzählt.

Lars Amenda ist Historiker und Autor, seit gut zehn Jahren befasst er sich mit – vorrangig Hamburger – Sportgeschichte. Und er war deshalb genau der richtige Mensch, um zum 75. Jahrestag des Bestehens des Hamburger Sportbundes (HSB) eine Chronik über dessen Werdegang zu schreiben.

An diesem Dienstag, wenn der HSB zum Festakt in den Lascana Beach Club an der Humboldtstraße lädt, wird das 108 Seiten starke und in einer Startauflage von 2000 Exemplaren gedruckte Werk an die rund 600 erwarteten Gäste sowie alle 860 HSB-Mitgliedsvereine und -verbände verteilt.

Hamburger Sportbund: Erster Präsident drohte mit Prügel

Der Mann, der Journalisten verprügeln wollte, war der erste Präsident des HSB. Ernst Junge hatte den Vorsitz im Herbst 1945 übernommen; einer Zeit, in der Hamburg geprägt war von den Nöten der Nachkriegswirren. Damals hieß die Dachorganisation noch „Hamburger Verband für Leibesübungen“ (HVL).

Letzteres ein von Nazis missbrauchter Begriff, der zum offiziellen Gründungsdatum des HSB am 1. Juni 1948 aus dem Namen getilgt wurde. „Weil es sich um eine Neugründung handelte, war eine Entnazifizierung nicht notwendig“, sagt Lars Amenda.

HVL-Geschäftsführer war in Heinz Güsmann ein Sozialdemokrat und ehemaliger KZ-Häftling, der angesichts seiner NSDAP-unbelasteten Vergangenheit bei den Verhandlungen mit den Alliierten über die Neugründung das Wort führte.

Junge emigrierte nach Brasilien

Finanziert wurde die neue Sportorganisation durch gemeinsam mit dem Hamburger Fußball-Verband (HFV) eingeführte Sportwetten, aus deren Erlösen der HSB pro Jahr eine Million D-Mark einstrich – eine für damalige Verhältnisse ansehnliche Summe, die bald für Aufregung sorgte und letztlich Ernst Junge sein Amt kostete.

Im Januar 1950 schrieb der „Spiegel“ über persönliche Bereicherungen Junges am Fußballtoto. Ein Korruptionsfall, in dessen Ausläufern Junge seine Prügeldrohung aussprach, im Februar 1950 seinen Rücktritt einreichte und 1953 nach Brasilien emigrierte.

Um diese und alle anderen historischen Fakten zu recherchieren, standen Lars Amenda neben den nach Jahren geordneten HSB-Protokollen, den verbandsinternen Veröffentlichungen und Medienberichten auch Akten im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung. „Die Quellenlage war sehr umfangreich“, sagt er, „ich hatte eher zu viel Material.“

Gütt kam in Gewissenskonflikt

Einen ähnlich spektakulären Abgang wie den Ernst Junges hatte unter den acht HSB-Präsidenten allenfalls Friedel Gütt zu bieten. Der im Jahr 2020 verstorbene Wandsbeker übernahm den Verband 1981 und führte ihn bis 1996, als er ebenfalls im Zuge von Uneinigkeiten über die Verteilung der Glücksspieleinnahmen zurücktreten musste.

Gütt war in einen Gewissenskonflikt geraten, weil er 1991 zusätzlich das Amt des Präsidenten im Fußballverband übernommen hatte und deshalb bei der Aufsplittung der Gelder nicht neutral sein konnte. Mit den Worten „jetzt ist daddeldu“ wurde er bei seinem Rücktritt im Abendblatt zitiert. HFV-Präsident blieb Gütt bis 2007. Seitdem wird die Finanzierung im Übrigen über den Sportfördervertrag mit der Stadt geregelt.

Als prägendste Figur, so bewertet es zumindest Amenda, geht Fritz Bauer aus der Chronik hervor. Fast zwei Jahrzehnte, von 1962 bis 1981, führte der 1997 verstorbene Direktor der Allgemeinen Ortskrankenkasse den HSB – und öffnete ihn für den Leistungssport, dessen Förderung heute explizit nicht zu den Aufgaben des Dachverbands zählt.

Fritz Bauer war die prägendste Figur

„Fritz Bauer hatte zwar eine starke Ausrichtung auf den Breitensport, hat sich aber auch im Deutschen Sportbund engagiert, war wegweisend für das Thema Inklusion, hatte ein großes historisches Interesse und ein hervorragendes Standing in der Politik“, sagt Lars Amenda.

Angestoßen von Bauer wurde 1983 die erste Stiftung für Leistungssport gegründet, die heutzutage unter Ägide der Handelskammer das 1999 vom HSB-Präsidium eingeführte „Team Hamburg“ für Olympische Spiele unterstützt.

Grundsätzlich, so Amenda, habe der Hamburger Sportbund keinerlei gesellschaftliche Entwicklungen oder Chancen verpasst. „Vielmehr lassen sich gesellschaftliche Entwicklungen an der Geschichte des HSB ablesen, er ist im steten Wandel“, sagt er.

HSB als sportliches Tor zur Welt

Sehr früh, bereits im Gründungsjahr mit einem Austausch mit schwedischen Sportlern, sei der Durst nach Internationalität groß gewesen, „der HSB wollte ein sportliches Tor zur Welt darstellen.“ In den 1950er-Jahren des Wirtschaftswunders war auch im Verband der Aufschwung spürbar.

So wurde in weniger als einem Jahr Bauzeit das am 9. Juli 1952 vom Ersten Bürgermeister Max Brauer eingeweihte „Haus des Sports“ an der Schäferkampsallee errichtet, das bis heute Heimat des HSB ist.

Die stetig wachsende Bedeutung des Dachverbands dokumentieren auch die kontinuierlich steigenden Mitgliederzahlen, die im Jahr 2007 mit 502.571 die magische Grenze der halben Million knackten. Allerdings spielten Frauen im Sport auch im HSB lange Zeit eine untergeordnete Rolle.

Kodolitsch erste Präsidentin

1950 gab es in einer Stellungnahme des Verbands auf die Frage, warum keine Frau im Vorstand des HSB vertreten sei, den kruden Vergleich, dies sei so, „als würde es ein nicht stimmbegabter tüchtiger Sportler mit einem begnadeten Sänger im Singen aufnehmen wollen“.

Für einen weiteren Eklat sorgte 1993 Friedel Gütt, als er sich zu der Aussage verstieg, dass es unzumutbar sei, „wenn eine Frau Gefahr läuft, dass sie sich im Sportverein in einer Lesbengruppe wiederfindet“. Dagegen wurde sogar vor dem Haus des Sports demonstriert.

Auch wenn fünf Jahre zuvor der Arbeitskreis „Mädchen und Frauen im Sport“ gegründet worden war, sind weibliche Führungskräfte bis heute im Sport unterrepräsentiert. Der HSB jedoch hat seit November 2021 in Katharina von Kodolitsch (52) seine erste Präsidentin, seitdem ist auch das Präsidium mehrheitlich weiblich besetzt.

Olympiabewerbungen ein Makel

Bleibt die Frage nach den – neben den bereits erwähnten – traurigen Kapiteln in der Historie. Amenda hält den Verkauf der Sportschule Sachsenwald, die im April 2017 nach elf Jahren Leerstand für 3,45 Millionen Euro an eine Immobiliengesellschaft veräußert wurde, für ein solches. „Allerdings konnten von der Verkaufssumme die Kredite für das Haus des Sports abbezahlt werden“, sagt er.

Außerdem seien die verpassten Bewerbungen um die Ausrichtung Olympischer Sommerspiele ein Makel auch in den Annalen des Sportbundes. „Die olympische Bewegung hat bei der Gründung des HSB eine tragende Rolle gespielt, umso größer ist die Tragik, zweimal gescheitert zu sein.“

Insbesondere das mit nur 48,4 Prozent Ja-Stimmen verlorene Referendum im November 2015, das eine Bewerbung für die Spiele 2024 oder 2028 verhinderte, sei eine Pleite gewesen. „Der HSB hatte sich stark engagiert und eine Verbesserung der Sportinfrastruktur erhofft. Von daher war das ein sehr trauriges Kapitel“, sagt er.

Erstes HSB-Gästebuch aufgetaucht

Traurig, dass sein Buch nur im HSB-Kosmos erscheint, ist der Autor nicht, zumal sich beide Seiten offen lassen, das Buch zu einem späteren Zeitpunkt auf den Markt zu bringen. „Ich denke schon, dass es eine gute Verbreitung im Hamburger Sport finden wird, weil es die Sportgeschichte aus 75 Jahren abbildet“, sagt er.

Davon ist auch Maarten Malczak überzeugt, beim HSB Referatsleiter Politik, Kommunikation und Marketing und Auftraggeber der Chronik. „Es gab nicht einmal zum 50. Bestehen eine Festschrift, deshalb sind wir sehr froh, nun diese Chronik anbieten zu können“, sagt er.

Dennoch wird Lars Amendas Werk an diesem Dienstag nicht das einzige Buch sein, das große Aufmerksamkeit der Gäste erfährt. Im Zuge seiner Recherchen tauchte im Archivkeller des Verbands das in Gold gefasste erste Gästebuch des HSB aus dem Jahr 1952 auf, in dem sich Sportgrößen wie Fußball-Bundestrainer Sepp Herberger oder die indische Hockey-Nationalmannschaft der Herren verewigt haben. 1984 enden die Einträge, zur 75-Jahr-Feier nun sollen die Ehrengäste darin ihre Autogramme hinterlassen.