Hamburg. Para-Ruderin, Architektin, HSB-Vizepräsidentin: Wie Sylvia Pille-Steppat ihre Aufgaben meistert und was ihre Ziele für die EM sind.

Leugnen kann und möchte sie es nicht. „Es gibt schon manchmal Momente, in denen ich mich frage, warum ich das immer noch mache“, sagt Sylvia Pille-Steppat. Dann jedoch folgt dem kurzen Zweifeln dieses offene, sympathische Lachen, für das Hamburgs beste Para-Ruderin bekannt ist.

Ein Lachen, das sie dem Leben schon so oft entgegengeschmettert hat, wenn es sie wieder mit Herausforderungen traktierte; ein Lachen, das unterstreicht, wie glücklich die 55-Jährige ist, dass sie noch immer jede Hürde zu nehmen weiß, auch wenn es sich bisweilen so anfühlt, als würde ihr manches über den Kopf wachsen.

Am Montag war wieder so ein Tag. Immerhin konnte Sylvia Pille-Steppat, die als beratende Architektin im „Haus der Barrierefreiheit“ am Alsterdorfer Markt auf einer 20 Wochenstunden umfassenden halben Stelle angestellt ist, aus dem Homeoffice arbeiten. So entfiel der Arbeitsweg von ihrem Zuhause in Heimfeld, und sie konnte die Zeit nutzen, um die Taschen zu packen für das, was in dieser Woche aus sportlicher Sicht ansteht.

Am Dienstag geht es zur EM

An diesem Dienstag fliegt die gebürtige Stuttgarterin nach Ljubljana. Von Sloweniens Hauptstadt aus geht es per Busshuttle weiter nach Bled, wo von Donnerstag bis Sonntag die Europameisterschaften im Rudern stattfinden, in die die Parawettkämpfe eingegliedert sind.

Es ist der erste Jahreshöhepunkt für die Athletin vom Wilhelmsburger RC und hat insofern eine herausgehobene Bedeutung, weil Sylvia Pille-Steppat mit einem neuen Bootspartner antritt. Im vergangenen Jahr war die langjährige Einerfahrerin in einem Ausscheidungsprozess, der angesichts unterschiedlicher Ansichten über die Klassifizierung kontrovers geführt wurde, von der 24 Jahre jüngeren Manu­ela Diening (Münster) abgelöst worden.

Die Heim-EM in München und die WM in Racice (Tschechien) bestritt sie an der Seite des Berliners Leopold Reimann im Mixed-Doppelzweier. Zu dieser Saison entschied das Trainerteam, Newcomer Paul Umbach mit der erfahrenen Hamburgerin zusammenzuführen.

Generationenboot mit neuem Partner

Es ist eine Art Generationenboot, und Sylvia Pille-Steppat hat an der gemeinsamen Arbeit mit dem 21 Jahre alten Brandenburger, der in Esslingen studiert und deshalb für den RC Nürtingen startet, großen Gefallen gefunden. „Wir haben zwar erst Mitte April mit dem gemeinsamen Training begonnen, aber wir haben schon gute Fortschritte gemacht“, sagt sie.

Umbach hat seine neue Teamkollegin auf der Schlagposition abgelöst, was für Sylvia Pille-Steppat eine neue Erfahrung ist. „Ich war es viele Jahre gewohnt, meinen eigenen Rhythmus zu haben. Ich bin eher jemand, der sich bei der Schlagfrequenz schwer zurückhalten kann. Paul dagegen ist das Gegenteil eines jungen Wilden, er fährt einen sehr ruhigen, gleichmäßigen Schlag. Damit muss ich mich noch zurechtfinden“, sagt sie.

Weil Paul Umbach als Student schon donnerstags aus Schwaben nach Hamburg reisen konnte, war seit Mitte April gemeinsames Training von Donnerstag bis Sonntag am Stützpunkt in Allermöhe unter Leitung von Pille-Steppats Heimtrainerin Charlotte Hebbelmann möglich.

Konkurrenz ist weniger beeinträchtigt

Für Sylvia Pille-Steppat hält die neue Bootsklasse eine zweite Herausforderung bereit. Drei Klassen gibt es im Pararudern, die die Einschränkungen der Athleten abstufen: PR 1 bis 3, wobei 1 die höchste Einschränkung markiert. Dort ist die frühere Marathonläuferin, die durch die Folgen einer 2008 dia­gnostizierten Multiplen Sklerose in den Beinen gelähmt ist, eingeordnet.

Paul Umbach, der wegen einer Zerebralparese im Gehen eingeschränkt ist, zählt zur Klasse PR 2, deshalb müssen beide in seinem Limit antreten. „Für mich bedeutet das, dass meine Konkurrenz meist weniger beeinträchtigt ist. Aber davon lasse ich mich nicht beirren“, sagt sie.

Diese Einstellung ist es, die Sylvia Pille-Steppat in Hamburg und darüber hinaus zu einem Vorbild nicht nur, aber ganz besonders für andere Parasportler gemacht hat. Sie selbst ist zwar zu bescheiden, um diese Rolle offensiv für sich zu beanspruchen.

Vizepräsidentin im Hamburger Sportbund

Sie sagt aber: „Ich möchte schon anderen Mut machen, indem ich selbst immer wieder zeige, dass ich Herausforderungen als Chance begreife. Natürlich würde ich lieber weiter im Einer starten, aber nun habe ich die Möglichkeit, im Doppelzweier Erfolg zu haben, und die möchte ich bestmöglich nutzen“, sagt sie.

Dazu passt, dass ihr Engagement weit über die jeweils 20 Wochenstunden in Beruf und Leistungssport hinausgeht. Seit November 2021 ist Sylvia Pille-Steppat
ehrenamtlich als Vizepräsidentin im Hamburger Sportbund (HSB) eingespannt.

Neben ihrer Mitarbeit in der Kommission Wassersport liegen ihr Themen wie Nachhaltigkeit im Leistungssport und Prävention sexualisierter Gewalt besonders am Herzen. Dass sie als Bindeglied zwischen dem HSB und dem Hamburger und dem Deutschen Behindertensportverband fungiert, versteht sich von selbst.

Ehemann unterstützt sie sehr

Einmal jährlich veranstaltet der HSB einen Fachtag zu einem ausgewählten Thema; in diesem Jahr geht es um barrierefreie Sportstätten und inklusive Bewegungsinseln. „Ich freue mich sehr, dass ich mich da in der Planung und Gestaltung einbringen kann. Nur mit Barrierefreiheit funktioniert die Teilhabe am Sport“, sagt sie.

Zu häufig hat sie schließlich selbst erlebt, welche Probleme es bereitet, wenn Sportstätten nicht ans öffent­liche Verkehrsnetz angebunden sind oder Fahrstühle ausfallen, auf die Rollstuhlfahrer angewiesen sind. Ohne die Unterstützung ihres Ehemanns Bernd Pille „wäre ich niemals so weit gekommen“, sagt sie.

Hoffnung auf Paris 2024

In Slowenien ist der Ehemann nicht dabei. Die EM gilt als erste Standortbestimmung, acht Boote sind in ihrer Klasse am Start, so viele wie in keinem anderen Pararennen in Bled. „Das wird hart, aber auch interessant, um zu wissen, wo wir stehen“, sagt sie.

Entscheidend ist in diesem Jahr die WM in Serbiens Hauptstadt Belgrad Anfang September, wo es um die Qualifikation für die Paralym­pischen Spiele 2024 in Paris geht. Da will Sylvia Pille-Steppat dabei sein, auch wenn sie sich auf dem Weg ein ums andere Mal fragen wird, warum sie sich das noch antut.

Aus Hamburg sind für die EM auch Torben Johannesen, Benedikt Eggeling (beide RC Favorite Hammonia) und Marc Kammann (Hamburger und Germania RC) für den Achter, Malte Großmann (Favorite Hammonia) für den Vierer ohne Steuermann sowie Tim Ole Naske (RG Hansa) für den Doppelvierer nominiert.