Mailand/Essen. Jahrelang spielten der AC und Inter Mailand keine Rolle mehr international. Nun können beide Teams ins CL-Halbfinale einziehen.

Es ist jetzt fast knapp sieben Jahre her, als das Stadion Giuseppe Meazza im Mailänder Stadtteil San Siro eine Hülle erhielt, die Christo einst beim Verpacken des Berliner Reichstags nicht besser hinbekommen hatte. Die Europa Fußball-Union (Uefa) verpasste der imposanten Spielstätte mit seinen elf Türmen anlässlich des Champions-League-Finale 2016 ein eigenes Branding, etwa mit einem Cristiano Ronaldo an der Fassade in zentraler Rolle. Schließlich duellierten sich in der Lombardei – genau wie 2014 in Lissabon – die Madrider Lokalrivalen Real und Atletico.

Für eine gerne um Trends bemühte Metropole war das damals nicht so leicht zu ertragen, als 50.000, 60.000 Fußballfans aus der spanischen Hauptstadt die Hoheit übernahmen. Die lokalen Größen AC Mailand und Inter dienten bloß als Staffage. Ihre Altstars Massimo Ambrosini, Cafu oder Dejan Stankovic erzählten auf dem Fanfestival zwar Geschichten von früher, aber wer wollte das damals wirklich hören? Doch manchmal ändern sich die Zeiten schneller als gedacht: Plötzlich sind beide Mailänder Klubs in der Champions League wieder schwer in Mode.

Die Mailänder Klubs fehlten über ein Jahrzehnt im CL-Viertelfinale

Viel fehlt nicht, dann kommen im San Siro bald zwei Champions-League-Halbfinals zwischen Milan und Inter zur Aufführung. 80.000 Karten würden für das Stadtderby in Hin- und Rückspiel Mitte Mai hinten und vorne nicht reichen. Doch vorher müssen beide noch ihren Vorsprung im Rückspiel des Viertelfinals retten. Die Rossoneri, die Rot-Schwarzen, haben im italienischen Duell beim SSC Neapel (Dienstag, 21 Uhr/DAZN) ein 1:0 zu verteidigen. Die Nerazzurri, die Schwarz-Blauen, haben es zuhause gegen Benfica Lissabon (Mittwoch, 21 Uhr/DAZN) durch ein 2:0 auswärts etwas leichter. Allein diese Ausgangslage ist eine Sensation.

Milan, siebenmaliger Gewinner des Henkelpotts (zuletzt 2007), spielt erstmals seit elf; Inter, dreimaliger Champions-League-Sieger (zuletzt 2010), sogar seit zwölf Jahren wieder unter den Top Acht der Königsklasse mit. Der Anhang hat die Abstinenz mit einer Mischung aus Bestürzung und Gleichgültigkeit ertragen. Immerhin tröstete Milan im Vorjahr seine Gefolgschaft mit der Meisterschaft, Inter machte seine Gemeinde im Jahr zuvor mit dem Scudetto glücklich. Und weil Napoli in diesem Jahr endlich, endlich titeltaugliche Erben eines Diego Armando Maradona hervorbringt, könnten alle auf ihre Kosten kommen. Selbst Juventus Turin hat die Chance, mit dem Gewinn der Europa League über die Hintertür die Champions-League-Bühne zu erreichen.

Die Serie A feiert ihre Renaissance

Die Renaissance der Serie A ist nicht zu leugnen. Das Landes des Europameisters 2021 hat fünf Klubs in die Viertelfinals der Europacupwettbewerbe gehievt hat. Mehr als die Premier League und La Liga – und mehr als die Bundesliga sowieso. Als Napoli im Achtelfinale gegen Eintracht Frankfurt (2:0, 3:0) die erste von zwei Lehrstunden verpasste, sagte Trainer Luciano Spalletti: „Es wird Zeit, dass wir das Klischee vom schlechten italienischen Fußball beseitigen.“ Ausgerechnet Nationalcoach Roberto Mancini goss Wasser in den Wein, als er gegen die Wiedergeburt des italienischen Fußballs einwandte: „Wenn Milan, Napoli und Inter mit 33 Italienern spielen würden, könnte man das sagen. Aber es ist noch nicht einmal die Hälfe.“ Komisch, dass solche Argumente bei englischen Klubs nie bemüht werden.

Inter Mailand gewann das Hinspiel in Lissabon 2:0.
Inter Mailand gewann das Hinspiel in Lissabon 2:0. © firo

Gerade die Aushängeschilder aus der Po-Ebene haben sich neu erfunden. Nach vielen Irrungen und Wirrungen in der Post-Berlusconi-Ära leistete Legende Paolo Maldini als Sportchef beim AC Milan ganze Arbeit, indem er eine junge, spielstarke Truppe formte, in der Sandro Tonali aus der Mittelfeldzentrale heraussticht – der 22-Jährige ist inzwischen auch in der Squadra Azzurra gesetzt. Ansonsten definiert sich dieses Kollektiv gerne über die Arbeit gegen den Ball. Schon gegen Tottenham Hotspur (1:0, 0:0) war dieser Minimalismus zu bestaunen. Gastgeber Napoli setzt nun darauf, dass ihn die Unterstützung seiner frenetischen Fans, die rechtzeitig ihren Disput mit der Klubspitze beigelegt haben, und die Genesung des zuletzt schmerzlich vermissten Unterschiedsspielers Victor Osimhen weiterhilft. Der Nigerianer ist die Attraktion am Fuße des Vesuvs.

Lautaro Martinez und Romelu Lukaku bilden den Weltklasse-Sturm bei Inter Mailand

Hinter ihm gibt Lautaro Martinez den zweitbesten Schützen der Serie A. Der argentinische Weltmeister bildet mit dem belgischen Weltklassemann und Weltenbummler Romelu Lukaku den Doppelsturm bei Inter Mailand. Die Interisti erleben nur gerade, wie ihr Ensemble an den großen Aufgaben wächst, während die Pflichtaufgaben vernachlässigt werden. Die direkte Champions-League-Qualifikation wackelt nach drei Heimpleiten bedenklich. Vielleicht kein Wunder, wenn viele Tifosi bereits euphorisch für das Champions-League-Endspiel am 10. Juni in Istanbul planen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist ein italienischer Vertreter dabei. Fühlt sich irgendwie besser an, als anderen den roten Teppich auszulegen.