Dschidda. Demut bestimmt den Saisonauftakt des ehemaligen Abo-Weltmeisters Mercedes, der Red Bull in der Formel 1 derzeit nicht gefährden kann.

Nach der Demütigung folgt die Demut. Platz vier und fünf für George Russell und Lewis Hamilton beim Großen Preis von Saudi-Arabien, das war nur so etwas wie Schadensbegrenzung für das Werksteam von Mercedes. Trotz technischer Anfälligkeiten kreisten die Rennwagen von Red Bull Racing einmal mehr in ihrer eigenen Umlaufbahn, die Dauersieger der Vergangenheit hingegen zu Sternchen degradiert. Die Gesichtszüge von Teamchef Toto Wolff scheinen sich gar nicht mehr aus ihrer Verhärtung zu lösen, der Österreicher konnte dem neuerlichen Hinterherfahren nur wenig Positiva abgewinnen: „Mut macht uns, dass wir jetzt Klarheit haben.“

Der Boss hat ein Machtwort gesprochen, das umstrittene Konzept des Rennwagens vom Typ W 14 wird nicht mehr weiterverfolgt. Aus Wolff spricht die Reue, auf gut Österreichisch gesteht er: „Wir haben es verhaut.“ Und er verspricht ein fortgeschrittenes Marschtempo: „Wir rennen jetzt in die andere Richtung.“ Bis zum Europastart Ende Mai in Imola soll es den neuen Silberpfeil geben, vielleicht auch schon ein paar Wochen früher in Baku. Damit soll auch die Verunsicherung ein Ende haben, Menschen und Maschinen zugleich wieder in die optimale Balance gebracht werden.

Lewis Hamilton fehlt Verbindung zum Auto

Denn immer noch ist das erfolgsverwöhnte Team gefangen im Zwiespalt – zwischen zu viel oder zu wenig riskieren. Das geht an die Nerven und die Substanz. Lewis Hamilton gestand in Dschidda: „Ich bekomme zu diesem Auto keine richtige Verbindung.“ Schon bei der ersten Testfahrt hatte der Rekordweltmeister festgestellt, dass er wieder keinen titelfähigen Dienstwagen habe, und ärgerte sich, dass seine zuvor geäußerten Bedenken über das revolutionäre Konzept überhört worden waren: „Dabei weiß ich, was ein Auto braucht, und was nicht.“

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Ein offener Brief an die Fans, Appelle an den Mannschaftsgeist, Durchhalteparolen auf den sozialen Medien: Demut bestimmt den Saisonauftakt des ehemaligen Abonnements-Weltmeisters Mercedes. Es ist nach dem verkorksten letzten Rennjahr bereits der zweite Stresstest in Folge für das verwöhnte deutsch-britische Werksteam, und tatsächlich handelt es sich um eine fortgesetzte technische Malaise. Denn obwohl der an den Seiten radikal verschlankte Rennwagen 2022 erst ganz am Saisonende seinen ersten und einzigen Sieg einfahren konnte, verfolgten die Ingenieure das umstrittene Konzept weiter. Die Quittung für das Risiko gab es beim ersten Rennen in Bahrain, Mercedes war bloß noch vierte Kraft, überholt sogar vom Kundenteam Aston Martin.

Aufholjagd - zumindest in der Rennfabrik

Nach der Ernüchterung ist klar, dass kein noch so großer mentaler oder fahrerischer Kraftakt den W 14 zu einem ernstzunehmenden Herausforderer machen kann, deshalb kam es zu einer neuerlichen Krisensitzung. Mercedes pflegt dabei eine „no blame“-Kultur, kein Einzelner wird an den Pranger gestellt. Mit Hochtouren arbeiten die Konstrukteure jetzt in der Rennwerkstatt in Brackley: Die Seitenkästen sollen künftig wie bei den Gegnern deutlicher ausgebuchtet und anders geformt sein, um für mehr Balance und Power zu sorgen. Das Problem eines kompletten Umbaus in einer laufenden Saison allerdings ist nicht nur der Zeitfaktor und die Kapazitäten, sondern auch die Begrenzung der Mittel durch das budget cap. Erst zum Europa-Start Ende Mai in Imola ist mit der Runderneuerung zu rechnen, wenngleich Optimisten mit der Trendwende schon ein paar Wochen früher in Bau rechnen.

Mercedes-Teamchef Toto Wolff ist sehr ehrlich in seiner Analyse, auch wenn es schmerzt: „Wir haben uns blenden lassen.“ So führte der eigenwillige Weg in eine Sackgasse, gleichwohl das Auto Potenzial besitzt – nur eben nicht mit dieser Aerodynamik. Neben den technischen Problemen kann Mercedes nicht auch noch einen schief hängenden Haussegen brauchen. Die mannschaftliche Geschlossenheit war bislang einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren, deshalb wurde in Dschidda bereits gegengesteuert.

Eine Diskussion um den zum Saisonende auslaufenden Vertrag des Rekordweltmeisters soll unterbunden werden. Die Gerüchte waren auch deshalb aufgekommen, weil sich die Wege des Briten und seiner Physiotherapeutin Angela Cullen gerade jetzt nach sieben Jahren getrennt haben. Hamilton widerspricht öffentlich: „Ich sehe mich nirgendwo anders, und ich bin auch keiner, der gleich aufgibt.“ Er werde nach der unfreiwilligen Schock-Therapie seine ganze Energie nun in den Umkehrschub stecken. Tatsächlich können Champions in solchen Situationen den Unterschied machen. Für das Aufbäumen gegen das Hinterherfahren benutzen sie bei Mercedes gern die Vokabel „tough love“ – es ist das Lieben und Lernen auf die harte Tour.