Bishofshofen. Halvor Egner Granerud gewinnt die Vierschanzentournee. Der Norweger hat eine bewegende Geschichte hinter sich.

Als Sven Hannawald vor 21 Jahren den letzten deutschen Gesamtsieg bei der Vierschanzentournee feierte, war der kleine Bub Halvor Egner Granerud im fernen Norwegen einer seiner größten Fans. „Ich bin daheim im Garten gesprungen, meine Ski hatten die gleiche Farbe wie die von Sven Hannawald“, erzählte der inzwischen 26-Jährige dieser Tage. Nach seinem Triumph bei der 71. Vierschanzentournee ist Granerud selbst ein Star des Skispringens.

Granerud: "Einer meiner größten Träume"

Als erster Norweger seit Anders Jacobsen vor 16 Jahren entschied er den Skisprung-Spektakel für sich. Kein Wunder, dass sich die Teamkollegen auch gleich auf Granerud stürzten, nachdem er sich im Anschluss an die letzte Landung in der sicheren Zone des Auslaufs in den Schnee hatte fallen lassen. Der Tagessieg in Bischofshofen, wie schon zuvor in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen – beinahe hätte es wie bei Hannawald 2002 mit dem Grand Slam geklappt. Doch den Traum davon hatte ihm Dawid Kubacki in Innsbruck genommen. Nun aber gratulierte der 32 Jahre alte Pole, der gestern zum zweiten Mal Vater und in der Gesamtwertung Zweiter wurde, fair. Die norwegischen Kollegen nahmen Granerud auf die Schultern, mit der Fahne winkte er den Fans und seiner Familie zu. Als Lohn nimmt er 102.000 Euro und den berühmten goldenen Adler als Trophäe mit nach Hause. Und die Erfüllung „einer meiner größten Träume, die ich als Skispringer habe: Es bedeutet die Welt für mich, die Vierschanzentournee zu gewinnen.“

Ein begnadeter Flieger

Ein begnadeter Flieger war der Gesamtweltcup-Sieger 2020/21 schon immer, doch oft scheiterte er in den vergangenen zwei Wintern an seinen eigenen Nerven. Ob bei der Vierschanzentournee oder der Nordischen Ski-WM 2021 in Oberstdorf, wo er als Topfavorit keine Einzel-Medaille gewann. „Halvor ist ein 24-Stunden-Athlet, tut alles für den Sport. Manchmal ist er etwas zu detailverliebt und zu verkopft“, erklärt Alexander Stöckl (49), österreichischer Cheftrainer der Norweger, die Gründe, warum es so lange bis zum Durchbruch gedauert hat: „Aber er kommt das immer besser in den Griff. Bei den wichtigsten Springen des Jahres so eine Leistung zu zeigen, ist gigantisch und extrem nervenstark.“

Halvor Egner Granerud nimmt nach seinem zweiten Sieg bei der Vierschanzentournee die Meditationspose ein.
Halvor Egner Granerud nimmt nach seinem zweiten Sieg bei der Vierschanzentournee die Meditationspose ein. © Getty

Granerud selbst sagt, dass er „einen Weg gefunden hat, mit dem Druck umzugehen“. Dabei half ihm auch ein Psychologe. Deshalb setzte er sich direkt nach seinem Siegsprung beim Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen in Yoga-Meditationspose in den Schnee – genau wie es Fußball-Weltstar Erling Haaland, sein berühmter norwegischer Landsmann, nach Toren für Borussia Dortmund oder zuletzt für Manchester City oft getan hat.
Granerud wird in der Szene für seine außergewöhnlichen Flugkünste bewundert. Und das, obwohl Stöckl auf dem Trainerturm immer zittert, ob sein Springer den rechten Ski rechtzeitig in die richtige Flugposition bringt. „Trotz seines Skifehlers macht Granerud vor allem im Flug die entscheidenden Meter. Wenn sein System greift, dann fliegt er einfach geradeaus“, meint der beste Deutsche Karl Geiger anerkennend.

Umwege zum Leistungssportler

Der neue Vierschanzentournee-Sieger ist ein außergewöhnlicher Charakter, das zeichnete sich schon in seiner Kindheit ab. Seinen Eltern hat er beispielsweise den klaren Auftrag mitgegeben, dass sie ihn vom Playstation-Spielen abhalten sollen: „Schließlich will ich einmal der beste Skispringer der Welt werden.“ Auf dem Weg dahin gab es einige lustige Umwege. In seiner wilden Jugendzeit sprang Granerud nach einem Grillfest mit Freunden nackt von einer 60-Meter-Schanze in Oslo. Natürlich wurde das bildlich festgehalten. Seitdem hat Granerud in Norwegen den Spitznamen Nakenhopperen – der nackte Skispringer – weg. Noch heute findet er, dass das „mein witzigster Tag im Leben als Skispringer war“.

Später jobbte der Skisprung-Star in einem Kindergarten in seiner Heimat Trondheim. Dort musste er sich im Frühling 2020 mitten im Corona-Lockdown Geld dazuverdienen, nachdem im Winter davor ein 23. Platz sein bestes Weltcup-Resultat gewesen und er nach den Springen manchmal den Tränen nah gewesen war. Die Direktorin der Einrichtung berichtete, dass die Kinder sehr glücklich mit den lustigen Skispringer gewesen seien. Granerud machte sich in dieser Zeit aber auch Gedanken, was er aus seinem Skispringer-Leben machen will.

Halvor Egner Granerud springt im Nachthimmel von Bischofshofen Richtung Gesamtsieg bei der Vierschanzentournee.
Halvor Egner Granerud springt im Nachthimmel von Bischofshofen Richtung Gesamtsieg bei der Vierschanzentournee. © AFP

Das war der Beginn seines spektakulären Aufstiegs. Im Winter 2020/2021 gewann er den Gesamtweltcup und den Team-Titel bei der Skiflug-WM. Allerdings musste er in jenem Winter auch eine lange Quarantäne nach einer Corona-Erkrankung in Oberstdorf überstehen. An Tag 14 der Quarantäne postete Granerud ein Bild von sich beim Kaffeetrinken mit einem Schneemann. Dessen Name: Wilson. Wie im Film „Cast Away – Verschollen“, in dem Tom Hanks nach einem Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel strandet und ein Ball namens Wilson sein einziger Gesprächspartner ist. Jetzt will jeder mit ihm reden – und selbst seine einstiges Idol Sven Hannawald ist ein Fan der Flugkünste von Halvor Egner Granerud.