Doha. Die Schweiz trifft am Montag auf die brasilianische Nationalmannschaft. Die Ergebnisse der Vergangenheit geben Selbstbewusstsein.
Wegbegleiter, die Granit Xhaka schon etwas länger kennen, rieben sich bei dieser WM bereits mehrfach die Augen, als sei ihnen Wüstensand hereingeweht. Der Kapitän der Schweizer Nationalelf, daheim liebevoll „Nati“ gemeint, stellt sich öffentlich als geläuterte Persönlichkeit vor. Ruhig seine Worte, höflich sein Auftreten. Wer von seiner Vita nicht wüsste, würde ihn vielleicht als Friedensschlichter für heikle Katar-Fragen empfehlen. Aber dafür taugt der Heißsporn auch mit 30 Jahren noch nicht wirklich.
Als die Schweizer Delegation vor WM-Start für ein Testspiel einen Linienflug nach Abu Dhabi nahm und die Nationalspieler zwischen den Touristen saßen, rastete ihr Anführer mal wieder aus. Xhaka schimpfte laut, auch gegen den eigenen Verband. Die Liste solcher Ausbrüche ist lang. Vielleicht reichen vier Platzverweise und mehr als 150 Verwarnungen in etwas mehr als 600 Partien, um einen Profi zu beschreiben, der seine Emotionen nicht immer zügelt.
Angst ist für die Schweizer ein Fremdwort
Aber vor der Herausforderung im zweiten Gruppenspiel gegen Brasilien (Montag 17 Uhr/ ARD) geht es auch ihm darum, seiner Mannschaft viel Mut zuzusprechen. Respekt vor dem Rekordweltmeister schön gut und gut, aber auf dem Rasen sei Zurückhaltung fehl am Platz, sagt der 108-fache Nationalspieler. Keine Angst vor niemandem. Bei der EM eliminierten die Eidgenossen im Achtelfinale (im Elfmeterschießen) den Weltmeister Frankreich, scheiterten dann (wieder im Elfmeterschießen) an Spanien.
Die Alpenrepublik wird auf Platz 15 der Fifa-Weltrangliste geführt und spielte in der Nations League gegen Spanien und Portugal den Favoritenschreck. Zufall sei das nicht, sagt Xhaka. „Wenn man uns die letzten zehn, zwölf Jahre sieht, waren wir bei fünf großen Turnieren immer dabei. Das spricht für die Ausbildung in der Schweiz, für die Trainer, für den Staff und für die Spieler. Das zeigt, dass man hier vorwärts kommt. Wir haben eine hungrige Mannschaft.“
Xhaka bekleidet die Chefrolle im Mittelfeld der Schweiz
Er ist ihr Posterboy und ihre Werbefigur. In Doha prangt sein Konterfei an einem Hochhaus. Der Stratege vom FC Arsenal, der in einem robusten Dreier-Mittelfeld mit Djibril Sow (Eintracht Frankfurt) und Remo Freuler (Nottingham Forest) die Chefrolle bekleidet, hat noch nie unter mangelndem Selbstbewusstsein gelitten. Er fällt tief, fliegt hoch. Jetzt steht ihm der Sinn nach allerhöchsten Zielen. „Klar hat man Träume. Wir wollen was erreichen, was die Schweiz noch nicht erreicht hat.“
Wenn einer solche Ansprüche im Ensemble von Murat Yakin formulieren darf, dann er: Vor 13 Jahren wurde Xhaka mit der Schweiz schon U17-Weltmeister. Eine Sensation. Mit 16 gefährdete ein Kreuzbandriss seine Karriere, mit 19 ging er vom FC Basel zu Borussia Mönchengladbach, wo ihm geraten wurde, seinen Mund nicht gleich zu sehr aufzureißen. Der nassforsche Neuling tat es trotzdem – und brachte dem Traditionsverein vom Niederrhein vier Jahre später mit seinem Wechsel in die Premier League 45 Millionen Euro Ablöse ein.
Zwei WM-Duelle gegen Brasilien gab es für die Schweiz. 1950 (2:2) und 2018 (1:1) sprang jeweils ein Unentschieden heraus. Trotzdem hat Xhaka keine guten Erinnerungen an das letzte Turnier in Russland, weil er nach dem Gruppenspiel gegen Serbien (2:1) mal wieder zwischen alle Mühlsteine geriet. Er, der Sohn kosovo-albanischer Eltern, hatte damals mit Xherdan Shaqiri einen Doppeladler geformt, der die Flagge von Kosovo ziert. Serbien will das junge Land nicht als eigenständige Nation anerkennen, der Konflikt ist bis heute nicht ausgestanden.
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Das Handzeichen löste damals schwere Kontroversen aus. Die Unruhe kam zur Unzeit. Nach einem blutleeren Achtelfinale gegen Schweden (0:1) schied die Schweiz aus. Es dauerte Wochen, ja Monaten bis die Verwerfungen beigelegt waren. „Doppeladler“ wurde gar das Schweizer Wort des Jahres 2018. Wie es der Zufall, geht es diesmal im dritten Gruppenspiel noch einmal gegen die Serben. Sollte er treffen, versicherte Xhaka grinsend, würde er sich an Breel Embolo ein Beispiel nehmen: Der hatte sich bei seinem Siegtreffer gegen sein Geburtsland Kamerun einfach jede Jubelgeste erspart. Vielleicht findet da einer in der Wüste gerade wirklich zu sich.