Essen. Verschiedene Fußball-Reporter erinnern sich in einem Buch vor der WM in Katar an ihre besonderen WM-Erlebnisse. Eine Zeitreise.

Hat der Spieler bei seiner Auswechslung tatsächlich dem Trainer den Handschlag verweigert? Hängen dort beleidigende Plakate im Fanblock? Sind vor dem Stadion Hooligans und Polizisten aneinandergeraten? Solche Fragen prasseln auf den Fußballreporter im Stadion ein. Beantworten soll er die im besten Fall in Echtzeit, während er an einem Spielbericht feilt, der pünktlich mit Schlusspfiff vorliegen muss. Das Internet ist ein gefräßiges, ungeduldiges Monster. WhatsApp und andere elektronische Helfer knüpfen dem Reporter eine sehr kurze Leine in die Redaktion, die das Futter in Form von News einfordert.

Die Macht der Aktenordner

Ein Zeitsprung. Internet? Handy? Fax-Gerät? Zukunftsmusik. Ein funktionierendes Telefon? Oft seltener Luxus. Die eigentliche Leistung des Reporters bestand bis in die Neunziger Jahre darin, in einer Schnitzeljagd aus Irrfahrten, Schmeicheleien, kleinen Bestechungen und viel Improvisationstalent den Text zum Spiel über Gebirge, Wüsten und Ozeane hinweg in die Heimat zu bringen. Wer etwas schreiben wollte, musste es wissen – oder Aktenordner schleppen. Nachzulesen ist das in Texten, die Gerhard Waldherr für „Die WM und ich“ von Reportern schreiben ließ. Die Spanne der Erinnerungen reicht vom Wunder von Bern 1954 bis zum deutschen Debakel 2018 in Russland.

Der Leser erfährt viel über Selbstverständnis und Arbeit des Fußball-Reporters – und dass früher nicht zwingend alles besser, aber vieles anders war. Und manches vielleicht doch ein kleines bisschen besser.

Raimund Hinko beispielsweise erzählt, wie Max Merkel versuchte, sich ins Amt des österreichischen Nationaltrainers zu intrigieren und scheiterte, weil die Mannschaft um Hans Krankl wider aller Erwartungen 1978 in Argentinien plötzlich erfolgreich spielte.

Die Erinnerungen des Reporters an das Turnier 1978 in Südamerika sind in mehrerlei Hinsicht erhellend. Gerade dieses Turnier belegt, dass die Fifa bei der Auswahl des Ausrichterlandes alle moralischen Skrupel nicht erst jetzt abgelegt hat. In Argentinien herrschte in jenen Jahren eine brutale Militärjunta.

Früher teilten die Reporter alles

Die Erinnerungen der Fußball-Reporter, stellvertretend beschreibt das Bernd Linnhoff, zeigen aber auch, wie „wild“, wie wenig reglementiert das Miteinander zwischen Spielern und Funktionären auf der einen und Reportern auf der anderen Seite einst war. Man teilte Unterkünfte, Transportmittel, Kneipen, Bars und mehr. Es gab eine Kameraderie, die häufig schmerzhaft zerbrach, weil die eine Seite dachte, alle hätten dasselbe Ziel. Für den Titel, so die Logik, dürfte es keine kritische Berichterstattung geben. Ein Missverständnis, das bis heute besteht und dazu geführt hat, dass sich die Nationalmannschaft und ihr Tross gründlich isolieren. Nachzulesen sind die jüngsten Auswüchse dieses Verfolgungswahns in der Beschreibung Nikita Afanasjews, der 2018 versuchte, das DFB-Quartier in Watuntiki irgendwo im russischen Nirgendwo zu finden.

Wer aber in „Die WM und ich“ eine Abrechnung mit der Nationalmannschaft erwartet, liegt falsch, eigentlich wird eine sehr komplizierte Beziehung aufgearbeitet, es gibt reichlich Szenen einer sehr langen Ehe. Reporter verschiedener Generationen erinnern an die „Schmach von Cordoba“, die „Schande von Gijon“, an denen jeweils Deutsche und Österreicher beteiligt waren, oder dieses sprachlos machende 7:1 gegen den Gastgeber im Halbfinale der WM in Brasilien 2014, von dem Christian Eichler rührend schwärmt.

Schreiber und Rechercheure

Rund drei Dutzend WM-Reporter haben an dem Buch mitgearbeitet. Es sind großartige Schreiber beteiligt, findige Rechercheure, ausgewiesene Experten. Nicht alle taugen als Vorbilder, aber alle eint eine Leidenschaft. Die für Fußball. Obwohl oder gerade weil „Die WM und ich“ sich dem Fußball indirekt nähert, quillt das Buch über vor tiefer Liebe zum Spiel. Die wird, das macht ein trotziger Exkurs zum Turnier in Katar klar, auch die schwer ertragbare WM 2022 überstehen.

Die WM und ich - alle Infos zum Buch

Fußball-Fans erhalten in „Die WM und ich“ einen Überblick über beinahe 70 Jahre WM-Geschichte, aufgeschrieben von Reportern, die dabei waren – darunter auch Peter Müller, Sportchef dieser Zeitung. Es gibt saftige Details und große Emotionen. Dem Herausgeber Gerhard Waldherr ist ein extrem vielfältiges und faszinierendes Wimmelbuch der Erinnerungen gelungen.

„Die WM und ich“, M/Eleven, 319 S., 28 €