Hamburg. Der Argentinier gilt am Rothenbaum als Titelkandidat der Hamburg European Open. Barbara Schett stellt die Halbfinalisten vor.

Francisco Cerundolo muss grinsen, als er die Fragen hört. Er ist zwar erst 23 Jahre alt, aber mit der Historie seiner tennisspielenden Landsleute am Hamburger Rothenbaum kennt er sich bestens aus. Dass 1978, als das heute als Hamburg European Open firmierende Traditionsevent zum bis vor dieser Woche letzten Mal als kombiniertes Damen- und Herrenturnier ausgespielt wurde, mit Guillermo Vilas ein Argentinier gewann? Weiß er.

Dass 2003 mit dem späteren Sieger Guillermo Coria, Agustin Calleri, David Nalbandian und Gaston Gaudio gleich vier Argentinier das Halbfinale unter sich austrugen? Klar, gehört zum Allgemeinwissen. Und dass der bislang letzte Argentinier, der an der Hallerstraße den Pokal in die Luft stemmte, 2017 Leonardo Mayer war? Danke, setzen, Eins mit Sternchen.

Tennis: Cerundolo vom Geheimfavoriten zum Mann der Stunde

Es würde nach den Eindrücken der vergangenen Tage niemanden überraschen, wenn Francisco Cerundolo dem argentinischen Erfolgskapitel eine weitere Passage anfügen würde. Nach seinem hart erkämpften 6:3, 4:6, 7:6 (7:4)-Viertelfinalerfolg über den von den Diskussionen über seine Verstrickung in einen Skandal um manipulierte Matches unbeeindruckten Russen Aslan Karatsew (28/Nr. 37) hat sich der Weltranglisten-30. vom Status des Geheimfavoriten ins Rampenlicht durchgeschlagen.

„Ich habe ihn hier zum ersten Mal live erlebt und muss sagen, dass ich absolut begeistert von ihm bin“, sagt Barbara Schett. Die frühere österreichische Weltklassespielerin, die für den Fernsehsender ServusTV auf dem Center-Court die Siegerinterviews führt, hält den Südamerikaner vor allem angesichts von dessen Allroundfähigkeiten für den ersten Titelkandidaten. „Seine Vorhand ist eine brutale Peitsche, er hat eine Top-Rückhand, spielt Wahnsinns-Stopps. Außerdem hat er gerade enormes Selbstvertrauen und ist derjenige, den es am Wochenende zu schlagen gilt“, sagt die 46-Jährige.

Francisco Cerundolo: Acht Siege in Folge

Das angesprochene Selbstvertrauen hat sich der Rechtshänder aus Buenos Aires hart erarbeitet. Cerundolo stammt aus einer extrem sportlichen Familie. Sein Vater Alejandro war ebenfalls Tennisprofi, sein drei Jahre jüngerer Bruder Juan Manuel steht an Position 110 der Welt, Schwester Constanza gewann 2018 bei den Olympischen Jugendspielen mit Argentiniens Hockeydamen Gold.

In der vergangenen Woche gewann er in Bastad (Schweden) seinen ersten Titel auf der ATP-Tour, wofür ihn die Herrentennisorganisation ATP als „Spieler der Woche“ in den Fokus stellte. Das scheint dem hinter Diego Schwartzman (29/Nr. 14) aktuell zweitbesten Argentinier in der Weltrangliste so gut zu gefallen, dass er in Hamburg einfach so weitermachte. Acht Matches in Folge hat er jetzt gewonnen – und will damit auch im Halbfinale nicht aufhören.

Große Konkurrenz: Italiener Lorenzo Musetti

Wie hart diese Aufgabe werden dürfte, davon konnten sich am Freitagnachmittag die rund 7000 Besucher auf dem Center-Court überzeugen, die das Viertelfinale zwischen dem Italiener Lorenzo Musetti (20/Nr. 62) und dem Spanier Alejandro Davidovich Fokina (23/Nr. 35) verfolgten. Beide bezauberten mit überragendem Ballgefühl, temporeichem Schlagabtausch und hoher Intensität, am Ende war Musetti der verdiente 6:4, 6:3-Sieger.

Lorenzo Musetti (20/Italien) hat in seiner Karriere noch kein ATP-Turnier gewonnen und spielt zum ersten Mal am Rothenbaum.
Lorenzo Musetti (20/Italien) hat in seiner Karriere noch kein ATP-Turnier gewonnen und spielt zum ersten Mal am Rothenbaum. © WITTERS | LeonieHorky

„Es bringt riesig Spaß, ihm auf Sand zuzuschauen. Er hat ein tolles Spielverständnis, eine unglaubliche Vorhand und die schönste einhändige Rückhand im gesamten Feld“, sagt Barbara Schett. Musetti ordnete seine zweite Halbfinalteilnahme bei einem Turnier der 500er-Serie (500 Weltranglistenpunkte für den Sieger, dritte Kategorie nach Grand Slam und Masters) wenig euphorisch, aber sehr zufrieden ein.

Shootingstar Carlos Alcaraz: Dominator des Welttennis

„Ich bin sehr glücklich, dass ich aktuell so gut spiele“, sagte der Mann, der der vierte italienische Rothenbaum-Sieger nach Nicola Pietrangeli (1960), Paolo Bertolucci (1977) und Fabio Fognini (2013) werden könnte. Mit Letzterem ist er gut befreundet. „Bislang habe ich mit Fabio noch nicht über seinen Sieg hier gesprochen, weil ich nicht damit gerechnet habe, hier das Finale zu spielen. Aber jetzt werde ich ihn mal fragen, wie das geht“, sagte er.

Der Sieger des ersten Halbfinales, das am Sonnabend nicht vor 15.30 Uhr beginnt, muss im Finale am Sonntag (15 Uhr) voraussichtlich die höchste Hürde überspringen, die das Feld zu bieten hat. Über Spaniens Shootingstar Carlos Alcaraz (19) ist viel gesagt und geschrieben worden in dieser Woche. In seinem Viertelfinale wies der Weltranglistensechste, letzter Gesetzter im Feld, erstmals umfänglich nach, warum er als kommender Dominator des Welttennis gilt.

Spaniens Shootingstar Carlos Alcaraz (19) möchte bei seiner Rothenbaum-Premiere seinen sechsten ATP-Titel gewinnen.
Spaniens Shootingstar Carlos Alcaraz (19) möchte bei seiner Rothenbaum-Premiere seinen sechsten ATP-Titel gewinnen. © WITTERS | ValeriaWitters

Alcaraz als Grand-Slam-Champion?

Der russische Olympiazweite Karen Chatschanow (26/Nr. 26) war beim 0:6, 2:6 chancenlos. „Carlos will manchmal noch zu viel und trifft dann falsche Entscheidungen. Aber er spielt sehr variantenreich, bewegt sich perfekt. Es ist unfassbar, wie er den Ball beschleunigen kann. Wenn er weiter so lernt, ist er ein sicherer Grand-Slam-Champion“, sagt Barbara Schett.

Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe nicht beendet war das vierte Viertelfinale, in dem der nach langer Verletzungspause auf Rang 183 der Welt abgerutschte Kroate Borna Coric (25) und der Slowake Alex Molcan (24/Nr. 48) um den letzten Platz in der Runde der letzten vier kämpften. Wer auch immer sich am späten Freitagabend durchsetzte – er wird beim Festival der Ungesetzten der Außenseiter sein.

Der Slowake Alex Molcan (24) wartet auf den ersten ATP-Titel. 2021 kam er bei seiner Hamburg-Premiere ins Achtelfinale.
Der Slowake Alex Molcan (24) wartet auf den ersten ATP-Titel. 2021 kam er bei seiner Hamburg-Premiere ins Achtelfinale. © WITTERS | ValeriaWitters

Zuletzt noch eine gute Nachricht für die deutschen Tennisfans: Das Abschlusswochenende findet nach dem ernüchternden Abschneiden der einheimischen Profis im Einzel – zehn von elf schieden geschlechterübergreifend in Runde eins aus – nicht ohne deutsche Beteiligung statt. Tim Pütz (34/Frankfurt am Main) hat am Sonnabend (13 Uhr) an der Seite seines neuseeländischen Partners Michael Venus (34) die Chance, das Doppelfinale (So, 12.30 Uhr) zu erreichen.

Das Duo trifft auf Lloyd Glasspool (28/Großbritannien) und Harri Heliovaara (33/Finnland). Finalgegner sind Rohan Bopanna (42/Indien)/Matwe Middelkoop (38/Niederlande) die sich gegen Marcel Granollers (36/Spanien)/Horacio Zeballos (37/Argentinien) 3:6, 6:3, 10:3 durchsetzten.